01 Arthur und die vergessenen Buecher
Familien gebaut, ursprünglich als Verteidigungsbauten. Aber irgendwann ging es nur noch ums Prestige, darum, wer die meisten und die höchsten Türme besitzt. Dabei wurden manche Türme so schnell in die Höhe gezogen, dass sie schon bei einem etwas stärkeren Wind wieder auseinanderzufallen begannen. So mancher Fußgänger wurde damals von den herabstürzenden Steinen der torri erschlagen.«
Der Torre Asinelli, vor dem wir jetzt standen, ragte mit seinen 98 Metern stolz und schön (wenn auch etwas schräg) in den Himmel, was man von seinem Nachbarn nicht behaupten konnte. Der war nicht nur deutlich niedriger, sondern beugte sich so gefährlich nach hinten, als wolle er sich jeden Augenblick zur Ruhe legen.
»Fast 900 Jahre stehen die beiden schon hier«, bemerkte Larissa. »Stell dir mal vor, was die schon alles gesehen haben müssen.«
Ich beäugte die Due Torri misstrauisch. Wenn schon fünfzig Jahre alte Häuser aus Schwäche einstürzten, warum sollten dann nicht auch diese vorsintflutlichen Bauwerke einfach in sich zusammenfallen? Ich war froh, als wir die Zwei Türme wieder hinter uns gelassen hatten und ins Universitätsviertel eintauchten.
Dank der Ziegelsteine seiner Dächer und die Backsteine seiner Mauern war Bologna eine Symphonie aus warmen Rottönen. Die wandernde Sonne erzeugte in den Säulengängen immer neue Licht- und Schattenspiele, schob mal eine blank polierte Holztür in den Blickpunkt, mal ein verstaubtes Ladenfenster.
Am Spätnachmittag des zweiten Tages hatten wir uns in einem Eiscafé auf der kleinen Piazza Rossini niedergelassen. Wir waren erschöpft vom Herumlaufen und mehr als nur ein wenig ratlos, was wir als Nächstes unternehmen sollten.
Unter den Arkaden auf der gegenüberliegenden Seite der Via Zamboni saß, an die Hauswand gelehnt, ein bärtiger alter Straßenmusiker mit seinem Akkordeon. Neben ihm hatte sich auf einer Decke ein struppiger Straßenköter ausgestreckt und bewachte das Geldschälchen, das der Mann vor sich aufgestellt hatte.
Es waren wehmütige, langsame Melodien, die er aus seinem Instrument hervorzauberte, und er sang dazu mit einer tiefen, rauen Stimme, die nach jahrzehntelangem Zigaretten- und Alkoholgenuss klang.
Wir löffelten unser Eis und lauschten den Tönen, die über die Straße zu uns herüber wehten.
»Das ist wie ein Privatkonzert für uns«, sagte Larissa.
Sie hatte recht. Wir waren zu dieser Stunde die einzigen Gäste des Cafés. Zwar eilten viele Passanten vorbei, aber keiner von ihnen blieb lange genug stehen, um sich ein ganzes Lied anzuhören.
Die magische Atmosphäre der Stadt, die sonnenerwärmte Luft und die Musik versetzten mich in einen tranceähnlichen Zustand. Die Melodie rief in meinem Kopf eine wohlige Leere hervor. Vergangenheit und Zukunft verschwanden, meine Gedanken und Sorgen verloren sich im Nichts und ich befand mich nur noch im Hier und Jetzt.
Leider wurde dieses paradiesische Gefühl schon nach kurzer Zeit abrupt beendet, weil der Mann zu spielen aufhörte. Er rollte die Decke ein, band sie an einen alten Rucksack, hängte sich Rucksack und Akkordeon über die Schultern, nahm sein Schälchen mit den paar Münzen darin auf und verließ seinen Platz.
Er kam direkt auf uns zu.
Als er neben unserem Tisch stand, erkannte ich, dass er noch gar nicht so alt war. Seine Haare und sein Bart waren zwar mehr grau als schwarz, aber aus dem sonnengegerbten Gesicht blitzten zwei leuchtend blaue Augen, die ebenso gut zu einem Zwanzigjährigen gepasst hätten.
Seine Kleidung hatte schon bessere Tage gesehen. Sie war alt und abgenutzt, aber nicht verdreckt. Auch das Akkordeon sah aus, als würde es täglich mindestens einmal gereinigt. Er lächelte uns an und streckte uns wortlos sein Schälchen hin. Der Hund schnüffelte an meiner Hose.
Ich zog ein Zweieurostück aus der Tasche und legte es in seine Schale.
» Grazie «, kam es aus seinem grauen Bart, in dem zwei Reihen leuchtend weißer Zähne blitzten. Ich hatte keine Zeit, mich darüber zu wundern, denn er ergriff meine Hand, beugte sich zu mir vor und wisperte: » Dovete apprendere leggere la cittá. «
Dann ließ er mich los, drehte sich um und zog mit seinem Hund davon.
Meine Hand schwebte noch regungslos in der Luft, da, wo er sie losgelassen hatte.
»Arthur?«, sagte Larissa besorgt.
Ich muss einen seltsamen Anblick geboten haben. Aber ich befand mich in einem ganz besonderen Zustand. Als der Musiker meine Hand genommen hatte, hatte ich das Gefühl, als würde ein
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