01 Arthur und die vergessenen Buecher
wurde. Nahezu die gesamte Schreibtischfläche war, ebenso wie der Boden, mit Bücherstapeln bedeckt, von denen manche eine so gefährliche Seitenneigung aufwiesen wie der kleinere der Due Torri . An den Wänden, sofern sie nicht von Regalen verdeckt wurden, hingen Landkarten, Stadtpläne und Zeittafeln.
Der Raum war leer. Zumindest dachten wir das zuerst. Dann tauchte hinter zwei Bücherstapeln ein Kopf auf.
» Benvenuti all’istituto della storia alternativa«, sagte der Kopf. »Vi accomodate! «
Das war leichter gesagt als getan: Setzt euch. Wohin sollten wir uns denn setzen? Stühle konnten wir keine entdecken.
Hinter dem Schreibtisch kam jetzt ein kleines, dürres Männchen hervor. Es trug eine Kakihose, die kurz über den Knien endete und dazu ein viel zu weites T-Shirt mit der Aufschrift I want to believe . Seine nackten Füße steckten in einem Paar unförmiger Sandalen.
» Aspettate «, sagte das Männchen, das di Stefano sein musste, und trug die obere Hälfte eines Bücherstapels ab. Darunter kam ein hölzerner Hocker zum Vorschein. Er wiederholte den Vorgang mit einem zweiten Stapel und lud uns dann mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen.
Vorsichtig navigierten wir unseren Weg durch das Chaos, bis wir die Hocker erreicht hatten. Ebenso vorsichtig ließen wir uns darauf nieder. Di Stefano hatte inzwischen wieder seinen Platz hinter dem Schreibtisch eingenommen und schob ein paar Bücher beiseite, um freien Blick auf uns zu haben.
Er sah eher aus wie ein zu groß geratener Pfadfinder und überhaupt nicht so, wie ich mir einen Wissenschaftler vorstellte. Sein Gesicht hatte etwas Jungenhaftes, nur an den Lachfalten um seine Augen bemerkte man, dass er schon einige Jahre auf dem Buckel hatte.
»Sprechen Sie Deutsch?«, fragte ich.
Di Stefano nickte eifrig. » Si, si , ich habe ein paar Semester in Deutschland studiert. In Tübingen.« Er hatte, im Gegensatz zu vielen Italienern, keine Schwierigkeiten mit unseren Umlauten.
»Wir kommen auf Empfehlung von Antonio«, fuhr ich fort.
»Antonio!«, rief er. »Dann müsst ihr die Kinder aus dem Zug sein! Er hat mich angerufen und mir von euch erzählt. Was kann ich für euch tun?«
»Wir sind auf der Suche nach einer Antwort«, sagte ich. »Einer Antwort auf die Frage, was es mit den Türmen auf sich hat.«
»Und was genau wollt ihr da wissen?«, fragte er.
»Wenn wir diese Frage beantworten könnten, wären wir nicht hier«, erwiderte ich. »Aber wir glauben, dass die Türme ein Geheimnis in sich bergen, das wir entschlüsseln müssen.«
Er beugte sich über seinen Schreibtisch. »Und warum müsst ihr das?«
Ich blickte Larissa fragend an. Sie nickte unmerklich.
»Jemand hat uns geraten, ›die Stadt zu lesen‹. Zu welchem Zweck, das darf ich Ihnen nicht sagen. Es hat mit einem weiteren Geheimnis zu tun, das wir aufklären müssen.«
»Hmmm.« Er ließ sich wieder in seinen Stuhl zurückfallen und überlegte. Wir warteten schweigend. Schließlich schien er einen Entschluss gefasst zu haben.
»Ihr seid genau an den richtigen Ort gekommen!«, rief er. »Die ganze offizielle Geschichtsschreibung ist doch vernagelt, wenn es um Dinge geht, die sie nicht erklären kann! Sie schließen die Augen und tun so, als existiere das nicht. Ich weiß, wovon ich spreche. Schließlich habe ich über zehn Jahre Geschichte studiert und dabei genug von diesen engstirnigen Wissenschaftlern kennengelernt.«
Er spuckte das Wort Wissenschaftler wie angeekelt aus und begann in einem Stapel von Papieren zu wühlen, die neben ihm auf dem Schreibtisch lagen.
»Hier«, sagte er und hielt ein paar zusammengetackerte Blätter hoch. »Das ist unser Gründungsmanifest.« Er schlug die erste Seite um. »Wer die menschliche Geschichte begreifen will, der muss zunächst die unsichtbaren Gesetze verstehen, die ihren Verlauf bestimmen«, las er vor. »Es sind gerade das Unerklärliche, das Unbekannte und das Fragwürdige, in dem diese Gesetze verborgen sind.« Mit einem zufriedenen Gesicht legte er die Blätter zurück auf den Schreibtisch. »Genau das ist der Grund, warum wir das Istituto ins Leben gerufen haben.«
Ich fragte mich, wer außer ihm sich noch hinter diesem Wir verbarg. Für mich sah es so aus, als seien das Institut und di Stefano ein- und dasselbe.
»Und Sie wissen auch etwas über die Türme?«, fragte ich, um das Gespräch wieder auf unser Thema zurückzulenken.
»Ja, ja, natürlich. Gerade die Türme sind doch ein Beweis für die verborgenen Gesetze, von
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