01 Arthur und die vergessenen Buecher
mit jemandem reden. Es war eine tiefe weibliche Stimme.
Ohne zu wissen, warum, nahm ich das Buch der Antworten vom Tisch und schob es wieder in meine Tasche. Dann öffnete sich auch schon die Tür, und Montalba kam zurück, gefolgt von einer hochgewachsenen, kräftig gebauten Frau, die ihn locker um zwei Köpfe überragte.
»Sylvia!«, rief Signora Montalba und hielt sich die Hand vor den Mund, ob vor Erstaunen oder Schrecken, wusste ich nicht zu sagen.
»Sofia, meine Liebe«, antwortete die Frau mit einem falschen Lächeln. »Es ist lange her. Und wie ich sehe, haben die Jahre dir nicht besonders gut getan.«
Dann wandte sie sich mir zu. »Und du musst der lästige Arthur sein, der sich in Dinge mischt, die ihn nichts angehen.«
Das war sie also: Sylvia Slivitsky, die Mutter von Sam und Ham, die gefürchtete Gegenspielerin des Bücherwurms, die legendäre Madame Slivitsky.
Ich studierte sie genauer, während sie mir gegenüber am Tisch Platz nahm. Montalba machte eine entschuldigende Handbewegung und setzte sich ebenfalls. Sie hatte langes, schwarzes Haar, das bereits einige graue Strähnen enthielt. Früher war sie bestimmt einmal eine sehr schöne Frau gewesen. Attraktiv war sie auch heute noch, sah man einmal von den zu schmalen Lippen ab.
Sie war komplett in Schwarz gekleidet: schwarze Schuhe, schwarze Hose, schwarzer Pullover und schwarzes Jackett. Ich kannte mich zwar mit Kleidung nicht aus, aber was sie trug, saß perfekt und war sicher nicht gerade von der billigsten Sorte. Von ihrem Outfit her passte sie auf jeden Fall zum Narbengrufti.
Sie legte ihre Arme auf den Tisch und blickte mich an. Ihre Augen wirkten wie Fremdkörper in ihrem Gesicht. Sie strahlten weder Wärme noch Hass noch sonst etwas aus – sie waren einfach nur kalt und tot. Wie die Augen einer Puppe, dachte ich.
»Nun?«, sagte sie auffordernd.
Ich antwortete nicht. Unauffällig zog ich meine Umhängetasche mit dem Buch der Antworten etwas näher an mich heran. Aber es befand sich für meine Verhältnisse noch immer viel zu sehr in ihrer Nähe.
»Nun?«, fragte sie erneut.
»Was willst du von dem Jungen, Sylvia?«, mischte sich Signora Montalba ein. »Hast du nicht schon genug Schaden angerichtet in deinem Leben?«
Madame Slivitsky drehte den Kopf und sah die Sprecherin an wie ein Storch einen Frosch, kurz bevor er ihn vertilgt.
»Und wer hat dir erlaubt, dich einzumischen, Sofia?«, erwiderte sie, ohne die Stimme zu heben. »Hast du nicht irgendwo noch etwas zu Stopfen oder zu Bügeln? Du bist doch so ein kleines Hausmütterchen geworden. Wenn Erwachsene reden, solltest du dich einfach raushalten. Sonst könnte das unangenehme Folgen für deine Liebsten haben.«
Signora Montalba verschlug es die Sprache. In ihren Augen las ich eine Mischung aus Empörung und Angst.
»Du kannst dir deine Drohungen sparen, Sylvia«, sprang Signor Montalba seiner Frau bei. »Hier geht es nicht um uns.Hier geht es um zwei Kinder.«
»Kinder! Pah!« Madame Slivitskys Tonfall wurde noch eine Spur verächtlicher. »Sie sind alt genug, sich in meine Angelegenheiten einzumischen. Also müssen sie auch mit den Konsequenzen leben.« Bei diesen Worten richtete sie ihren Blick auf mich.
»Darauf hat dich der alte Lackmann wahrscheinlich nicht vorbereitet, was, Kleiner?«
Was sollte ich darauf antworten? Ich wusste bereits, dass der Bücherwurm mir nicht alles erzählt hatte, was er wusste. Aber ich hatte keine Lust, das dieser Frau gegenüber zuzugeben. Anstatt ihre Frage zu beantworten, fragte ich zurück:
»Wohin haben Sie Larissa verschleppt?«
Ihre Augen formten sich zu zwei schmalen Schlitzen.
»Habe ich richtig gehört? Du willst von mir eine Antwort?«
Sie legte den Kopf in den Nacken und stieß ein freudloses Lachen aus. Dann zeigte sie mit einem schwarz lackierten Fingernagel auf mich.
»Wir sollten einmal klarstellen, wie die Dinge sich verhalten, Kleiner. Dein alter Freund Lackmann will dasselbe wie ich: das Buch der Antworten. Wahrscheinlich hat er dir und der Kleinen vorgejammert, er möchte es lediglich vor mir schützen. Aber glaub mir, ich kenne Johann. Und das vielleicht besser als ihr alle hier am Tisch. Viel besser.«
Ihre Gesichtszüge verzerrten sich und sie schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte.
»Johann will die Macht , die das Buch ihm geben kann. Er spielt gern den bekehrten Paulus, aber tief in seinem Inneren lebt immer noch der alte Saulus, der er einst war – und mit dem ich lange Zeit sehr gut
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