01 Arthur und die vergessenen Buecher
die Slivitskys und ihre Skrupellosigkeit nicht, und er wusste nichts von der Macht, die das Buch der Antworten seinem Besitzer verleihen konnte. Letztlich war ich doch auf mich allein gestellt. Und so sehr ich mir während der letzten Stunden auch das Hirn zermartert hatte, es war mir kein Plan eingefallen, wie ich Larissa und das Buch retten konnte.
Die Straße war menschenleer. Meine Schritte hallten in den Säulengängen, deren Schatten mir in dieser Nacht eher bedrohlich als magisch erschienen. Mit jedem Meter, den ich mich dem Park näherte, sank meine Zuversicht. War ich den Montalbas gegenüber gerade noch cool und beherrscht aufgetreten, so hätte ich jetzt am liebsten kehrt gemacht und wäre zurück in ihre Wohnung geflohen. Aber das ging natürlich nicht.
Ich hatte gerade die Via dell’Orso gekreuzt, als sich wenige Meter vor mir ein Schatten aus einem Türeingang löste. Abrupt hielt ich an. Diese Stelle war besonders dunkel, und so sehr ich meine Augen auch anstrengte, konnte ich nicht erkennen, um wen es sich handelte. Die Gestalt kam langsam auf mich zu. Ich verlagerte mein Gewicht aufs rechte Bein und machte mich bereit, sofort davonzusprinten, als ich das Gesicht erkannte. Es war der Straßenmusiker.
Seine unnatürlich weißen Zähne blitzten durch das Halbdunkel. Er hatte weder Akkordeon noch Rucksack dabei, auch sein Hund war nirgendwo zu sehen. Dieses Treffen konnte kein Zufall sein.
Er war inzwischen auf zwei Meter herangekommen. Ich war noch immer unschlüssig, ob ich abwarten oder fliehen sollte, als er zu sprechen begann – zu meiner Überraschung in fließendem Deutsch.
»Keine Angst, Junge«, sagte er. »Ich bin hier, um dir zu helfen.«
Ich entspannte meine Beinmuskeln ein wenig. Der Mann hatte uns einmal geholfen – warum sollte er das jetzt nicht noch einmal tun? Zugleich wunderte ich mich über das Vertrauen, das ich plötzlich wildfremden Leuten entgegenbrachte, zuerst di Stefano und jetzt diesem Bärtigen.
»Wie kommen Sie darauf, dass ich Hilfe brauche?«, fragte ich mit dem verbliebenen Rest meines Misstrauens.
»Du bist auf dem Weg, deine Freundin zu befreien«, sagte er. »Und du hast das Buch der Antworten in der Tasche.«
Irgendwie erstaunte es mich nicht, dass er das alles wusste. Meine Sicht auf die Welt hatte sich seit der Bekanntschaft mit Gerrit verändert. Das Unwahrscheinliche erschien mir mehr und mehr selbstverständlich.
»Und wenn das so wäre?«, fragte ich vorsichtig.
»Dann brauchst du jede Hilfe, die du kriegen kannst«, erwiderte er. »Ich kann dich zwar nicht zum Treffen mit der Schwarzen Frau begleiten; da musst du dich schon auf dich selbst verlassen. Wenn es euch aber gelingt, zu fliehen, dann kommt zum hinteren Ausgang des Parks. Dorthin, wo immer der Markt stattfindet. Da werde ich auf euch warten.«
Das klang nicht sehr vielversprechend. Aber es war besser als nichts. Also nickte ich. »Ich werde mir das merken.«
»Du bist enttäuscht, weil ich nicht mehr für dich tun kann«, sagte der Mann. »Das ist verständlich. Aber ich darf mich nicht direkt in die Dinge einmischen. Das ist ein Gesetz.«
Das hatte ich doch schon einmal gehört. »Ein Gesetz der Bewahrer?«, entfuhr es mir.
Er machte eine zustimmende Kopfbewegung.
Ganz plötzlich fuhr mir eine weitere Frage durch den Kopf.
»Dann kennen Sie vielleicht auch Gerrit de Fleer in Amsterdam?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Der Schützenjunge ist also auch wieder aktiv geworden«, sagte er langsam. »Das bedeutet, es brechen neue Zeiten an.«
Ich starrte ihn verständnislos an. »Ist das gut oder schlecht?«, fragte ich.
»Alles eine Frage des Standpunkts, Junge«, entgegnete er. »Und jetzt musst du dich beeilen, sonst verpasst du noch deine Verabredung.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand in den Schatten der Arkaden. Ich hätte gerne noch von ihm erfahren, was es mit dem Schützenjungen auf sich hatte, aber da war er schon verschwunden.
Das Treffen mit dem Straßenmusiker hatte meine Stimmung etwas gehoben und ich fühlte mich nicht mehr ganz so mutlos wie zuvor. Vielleicht gab es ja doch eine Chance für Larissa und mich, heil und mit dem Buch aus dieser Sache herauszukommen. Etwas zuversichtlicher setzte ich meinen Weg fort.
Di Stefano lief bereits nervös vor den untersten Stufen der Freitreppe auf und ab. Er hatte seine kurze Kakihose gegen eine Jeans und seine Sandalen gegen ein paar Tennisschuhe getauscht.
»Ah, da bist du ja endlich!«, rief er, als ich
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