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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Märchenschatz und mit erbaulichen Bibelgeschichten ernährt worden war, wie die Christl von der Post um ein Haar den falschen Kurfürsten geheiratet hätte. Die fröhliche Chronistin war so hingerissen von den Bildern und Melodien, die sie in ihrem Gedächtnis entdeckte, dass sie um ein Haar wieder geweint hätte.
    »Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich damals war. Das Hoftheater war eine Pracht. In Darmstadt verstand man zu leben. Unser Ernst Ludwig hat ja eine Enkelin von Königin Victoria geheiratet.«
    »Das hat Otto auf meinen Blumentopf geschrieben, doch der ist vom Balkon gesprungen. Ganz viel früher war das, als ich noch klein war.«
    »Lass das nur nicht deine Mutter hören, mein Kind. Ihr fehlt es in den entscheidenden Dingen an Phantasie.«
    »Dir auch?«
    »Ach Vickylein, wenn man alt wird, fehlt es einem eher am Verstand.«
    Im Schlenderschritt spazierten sie die Berger Straße hinunter. Einige Geschäfte waren weihnachtlich geschmückt, nicht wie im Vorjahr mit bunten Kugeln, Lebkuchenkringeln und putzigen Holzengeln aus dem Erzgebirge, sondern nur mit vereinzelten Tannenzweigen, gerahmten Bildern aus alter Zeit und Puppenhäusern, in denen es immer Väter, Söhne und Brüder gab. Und einen Napfkuchen auf dem Tisch. Am Merianplatz kicherten sich Tante und Nichte vor einer Bäckerei die Kehle rau. Im Schaufenster thronte einsam ein Zweipfundbrot aus Pappmaché. Es hatte einen Bart aus Watte, stand aufrecht auf einer kleinen Kiste und war mit einem dreieckigen Hut aus Zeitungspapier ausgestattet, in den der Bäcker mit dem Galgenhumor der Zeitbewussten einen Tannenzweig gesteckt hatte. Von dem baumelte die Nachbildung einer Granate.
    Langsam wie Schulmädchen, die auf dem Nachhauseweg trödelten, weil die Pünktlichen immer den Mittagstisch zu decken hatten, spazierten sie durch die weitläufige Friedberger Anlage. Selbst im Weihnachtsmonat lungerte noch der Altweibersommer herum. Es gab Bäume mit einer Krone aus vergilbten Blättern, Gänseblümchen wuchsen auf dem Rasen. Eichhörnchen mit flammend roten Schwänzen bereiteten sich fröhlich auf die Entbehrungen des Winters vor. Kleine Jungen, die von nichts wussten, spielten Klicker und stritten sich mit hohen Stimmen, ob ein einfacher Tagessieg denn Ruhm auf Lebenszeit bedeutete oder nur eine gewonnene Schlacht. Griesgrämige alte Männer, die Zukunft ahnten, saßen fröstelnd auf den Bänken und zogen schweigend an Zigarettenstummeln.
    Abwechselnd an einem Hefestückchen knabbernd, das mit Sacharin und einer Mischung aus Vollkornmehl und gemahlenen Hülsenfrüchten gebacken und dünn mit Kunsthonig bestrichen war und trotzdem die Seligkeit der satten Zeiten auf die Zunge zauberte, gelangten die Lebensschwänzer auf Zeit zur Konstabler Wache. Dort sahen sie zum ersten Mal wachsgesichtige Feldgraue mit Kopfverbänden und grob gezimmerten Krücken. Im »General-Anzeiger« hatte gestanden, die Verwundeten würden schnelle Genesung in den vielen Lazaretten finden, die seit Kriegsausbruch in Frankfurt eingerichtet worden waren, und es dränge sie sehr, wieder zu ihren Kameraden an die Front zurückzukehren. Die Soldaten standen rauchend vor einem Karren, in dem ein heißes Getränk verkauft wurde. Die Feindeskugeln hatten ihnen Aufschub vom Sterben gewährt, doch ihre Augen waren schon tot.
    »Die armen Kerle«, schauderte Jettchen, »so jung und schon gezeichnet. Für immer und ewig.«
    »Hat Otto auch einen Verband um seinen Kopf gehabt?«
    »Ich glaube nicht. Bei den meisten geht es ganz schnell.«
    »Ich mag den Krieg nicht«, raunte Victoria verschwörerisch und schloss die Augen. »Aber unsere Lehrerin hat gesagt, dass sie uns den Mund mit Seife auswäscht und dass uns der Teufel holt, wenn wir so etwas Böses sagen.«
    »Wo will die denn die Seife hernehmen? Die ist ja jetzt schon knapp.«
    »Fräulein Schäfer ist doch eine Hexe aus Frankreich«, rief Victoria furchtlos. »Sie ist eine Spionin und hat vergiftete Zähne. Das weiß doch jeder.«
    Sie hüpfte kurz in den Himmel und sofort wieder zurück. Der alte Lodenmantel mit dem neuen weinroten Saum wirbelte um ihre Beine. Die kühne Springerin hatte leichtes Spiel gehabt, die mütterliche Erlaubnis für einen Stadtbesuch an einem ganz gewöhnlichen Donnerstag zu erlangen. Seit Ottos Tod fragte Betsy ihre Kinder nur noch selten nach den Schulaufgaben und nach der Zeit der beabsichtigten Rückkehr von ihren Unternehmungen. Auch bestand sie weniger energisch als im Herbst früherer

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