01 Das Hotel im Moor 02 Alles wird gut
wirkte gedrückt. Ohne etwas zu sagen, sah sie Kincaid an. Als er die Treppe erreichte, setzte er sich zwei Schritte von ihr entfernt und blickte schweigend auf den Vorplatz. Aus dem Augenwinkel sah er sie mit den Fäden spielen, die von ihrer modisch zerrissenen Jeans herabhingen, und ihre Füße, die in schmutzigen weißen Leinenschuhen steckten, erschienen ihm lächerlich klein.
Nach ein paar Sekunden begann sie zu sprechen. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Sie haben ihn gemocht, nicht wahr?«
»Ja.« Er wartete, ohne sie anzusehen.
»Er hat gesagt, Sie wären okay.« Ihre Worte waren jetzt klarer, ihre Stimme gewann an Kraft. »Echt okay. Nicht wie die meisten anderen.«
»Ach ja? Das freut mich.«
»Den anderen ist das ganz egal. Mein Vater war echt gemein. >Na, dann sind wir den kleinen Schwulen wenigstens los<, hat er gesagt. Alle haben sie gesagt...« Ihre Stimme schwankte, und er riskierte einen Blick zu ihr hinüber, bezwang jedoch den Impuls, sie zu berühren. Ohne ihm in die Augen zu sehen, drückte sie die Arme auf ihren Bauch und krümmte die Schultern ein wenig tiefer - eine Igelhaltung. »Sie sagen, daß er sich selber das Leben genommen hat. Aber das glaube ich nicht. So etwas hätte Sebastian nie getan.« Sie krümmte sich noch mehr zusammen und legte ihr Gesicht auf die hochgezogenen Knie.
Ach Gott, dachte Kincaid, was kann ich diesem Kind sagen, das es nicht noch unglücklicher macht? Hatte sie sich die Bedeutung dessen, was sie da gesagt hatte, überlegt? Daß Sebastian, wenn er sich nicht selbst das Leben genommen hatte, möglicherweise von jemandem getötet worden war, den sie kannte, vielleicht sogar liebte? Kincaid glaubte es nicht. Es war wahrscheinlicher, daß sie über die Umstände des Todes nicht genug wußte, um erkennen zu können, daß es kein Unfall gewesen sein konnte.
»Ich glaube«, improvisierte er, »bis jetzt steht gar nichts fest. Erst müssen sie ein paar Untersuchungen machen, um festzustellen, woran Sebastian gestorben ist.«
»Ich hab’ noch nie erlebt, daß jemand, den ich kannte, gestorben ist. Außer meiner Großmutter, und die hatte ich sehr lange nicht gesehen.« Angelas Worte klangen gedämpft. Sie hielt das Gesicht noch immer an die Knie gedrückt. »Sie haben mich nicht zu ihm gelassen. Mein Vater hat gesagt, ich soll nicht so blöd sein. Aber ich kann nicht glauben, daß er tot ist. Einfach weg. Einfach so. Ich müßte ihm doch wenigstens auf Wiedersehen sagen.«
»Ja, es hilft wirklich manchmal, einen Menschen, der tot ist, noch einmal zu sehen. Abschied zu nehmen. Ich glaube, das ist der Grund, warum sie bei manchen Beerdigungen offene Särge haben. Aber weißt du, wenn die Leute im Bestattungsinstitut den Toten dann geschminkt und zurechtgemacht haben, hat er meistens überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit dem Menschen, den man gekannt hat. Und das macht es in gewisser Hinsicht noch schlimmer.«
Angela überlegte einen Moment. »Dann möchte ich, glaube ich, Sebastian lieber doch nicht sehen. Selbst wenn sie’s mir erlauben würden. Ich möchte ihn lieber so in Erinnerung behalten, wie er war.«
»Ich an deiner Stelle«, sagte Kincaid langsam, »würde einfach auf meine eigene Art von ihm Abschied nehmen. Tu irgend etwas, von dem du weißt, daß er es gemocht hat. Geh irgendwohin, wo er gern war, oder tu etwas, was ihr zusammen getan habt.«
Angela hob den Kopf. Ihr Gesicht hatte sich aufgehellt. »Ja, das ist eine gute Idee. In memoriam. So heißt das doch, nicht wahr? Ja, vielleicht tu ich das.«
»Angela«, sagte Kincaid vorsichtig, »du hast Sebastian gestern abend noch gesehen, nicht wahr?«
»Ja, auf der Party. Da hat er mir von Ihnen erzählt. Aber ich kam nicht dazu, mit Ihnen zu reden, weil Sie mit den anderen so beschäftigt waren.« Sie legte besondere Betonung auf die Worte >den anderen<, und er vermutete, daß es die meisten Erwachsenen einschloß.
»Hat Sebastian irgendwie anders auf dich gewirkt als sonst?«
»Deprimiert, meinen Sie? Nein.« Angela krauste in plötzlicher Konzentration die Stirn. »Das heißt, er ist mal ein paar Minuten rausgegangen. Und als er wiederkam, da war er irgendwie... aufgeregt. Er hatte so einen Ausdruck im Gesicht, den ich schon kannte, wissen Sie, wie die Katze, wenn sie den Kanarienvogel gefressen hat. Zufrieden mit sich selbst. Aber er hat nichts gesagt. Und als ich ihn gefragt habe, hat er nur gesagt, >Laß gut sein,
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