01_Der Fall Jane Eyre
was?«
»Manche sagen, er könnte die Stücke verfaßt haben, die
normalerweise Shakespeare zugeschrieben werden.«
Chris war erstaunt. Und mißtrauisch.
»Ich weiß nicht, ob ich mit einer LitAg über dieses Thema sprechen
soll.«
»Gespräche sind doch nicht verboten, Chris. Wofür halten Sie uns,
für die Gedankenpolizei?«
»Nein, das ist SO-2, nicht wahr?«
»Aber zurück zu Marlowe …«
Chris senkte die Stimme. »Na schön. Wenn Sie mich fragen, könnte
Marlowe die Stücke durchaus geschrieben haben. Er war ohne Zweifel
ein begnadeter Dramatiker, wie der Faust , der Tamerlan und Edward
II. eindrucksvoll belegen. Er war als einziger seiner Altersgenossen
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dazu in der Lage. Vergessen Sie Bacon und Oxford; Marlowe ist der
klare Favorit.«
»Aber Marlowe wurde 1593 ermordet«, wandte ich ein. »Die
meisten Stücke sind erst danach entstanden.«
Chris sah mich an und sagte in verschwörerischem Tonfall:
»Stimmt. Falls er tatsächlich bei besagter Kneipenschlägerei ums
Leben kam.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«
»Daß sein Tod vielleicht vorgetäuscht war.«
»Warum?«
Chris holte tief Luft. Auf diesem Gebiet kannte er sich aus.
»Sie dürfen nicht vergessen, daß Elisabeth eine protestantische
Königin war. Dinge wie Atheismus oder Papismus stellten die
Autorität der protestantischen Kirche und damit auch der Königin als
deren Oberhaupt in Frage.«
»Verrat«, murmelte ich. »Darauf stand die Todesstrafe.«
»Genau. Im April 1593 verhaftete der Kronrat einen gewissen
Thomas Kyd als mutmaßlichen Verfasser regierungskritischer
Pamphlete. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung fand man
atheistische Schriften.«
»Und?«
»Kyd lieferte Marlowe ans Messer. Er behauptete, sie stammten von
Marlowe, mit dem er sich zwei Jahre zuvor ein Zimmer geteilt hatte.
Marlowe wurde am 18. Mai 1593 festgenommen, verhört und auf
Kaution wieder freigelassen, das heißt die Beweise reichten
vermutlich nicht aus, um ihn vor Gericht zu stellen.«
»Und was ist mit seiner Freundschaft zu Walsingham?« fragte ich.
»Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Walsingham
bekleidete eine einflußreiche Stellung beim Geheimdienst; die beiden
kannten sich seit Jahren. Da täglich neue Beweise gegen Marlowe ans
Licht kamen, schien seine Verhaftung unausweichlich. Aber am
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Morgen des 30. Mai kommt Marlowe bei einer Kneipenschlägerei zu
Tode, angeblich, weil er die Zeche nicht bezahlen wollte.«
»Wie praktisch.«
»Allerdings. Ich bin der festen Überzeugung, daß Walsingham den
Tod seines Freundes nur vorgetäuscht hat. Die drei Männer in der
Schenke standen allesamt in seinen Diensten. Er bestach den Coroner,
und Marlowe machte Shakespeare zu seinem Strohmann. Will, ein
verarmter Schauspieler, der Marlowe aus seiner Zeit am ShoreditchTheater kannte, brauchte dringend Geld; und so begann Shakespeares
Aufstieg mit dem Ende von Marlowes Karierre.«
»Interessante Theorie. Aber erschien Venus und Adonis nicht schon
ein paar Monate vor Marlowes Tod? Noch vor der Verhaftung Kyds?«
Chris hustete. »Guter Einwand. Dazu kann ich nur sagen, daß das
Komplott entweder von langer Hand vorbereitet war, oder jemand hat
die historischen Quellen manipuliert.«
Er schwieg einen Moment, blickte sich um und senkte die Stimme
noch weiter.
»Bitte verraten Sie den anderen Marlowianern nichts, aber noch
etwas spricht gegen einen vorgetäuschten Tod.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Marlowe kam im Verwaltungsbezirk des Coroners zu Tode.
Sechzehn Juroren sahen seinen angeblich vertauschten Leichnam, und
es ist äußerst unwahrscheinlich, daß sich der Coroner bestechen ließ.
Ich an Walsinghams Stelle hätte Marlowes Tod in der Provinz getürkt,
wo man einen Coroner wesentlich leichter kaufen konnte. Er hätte
sogar noch weiter gehen und den Leichnam verstümmeln lassen
können, um die Identifizierung unmöglich zu machen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Daß Walsingham Marlowe womöglich selbst ermorden ließ, um
ihn zum Schweigen zu bringen. Unter Folter hätte er vermutlich
ausgepackt, und es spricht einiges dafür, daß Marlowe wußte, wieviel
Dreck Walsingham am Stecken hatte.«
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»Und?« fragte ich. »Wie erklären Sie es sich dann, daß wir so gut
wie nichts über Shakespeare wissen? Daß er ein kurioses Doppelleben
führte? Und daß seine literarische Arbeit in Stratford praktisch
unbekannt war?«
Chris zuckte die Achseln.
»Keine Ahnung. Aber
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