01_Der Fall Jane Eyre
Wachleute sind tot. Der eine wurde mit seiner
eigenen Dienstwaffe erschossen.«
»Jane Eyre.«
»Woher zum Kuckuck wissen Sie das?«
»Von Rochester.«
»Von wem …?«
»Vergessen Sie’s. Haworth House?«
»Vor einer Stunde.«
»Ich hole Sie in zwanzig Minuten ab.«
Eine Stunde später brausten wir nach Norden Richtung Rugby. Die
Nacht war klar und kühl, und die Straßen waren so gut wie leer.
Obwohl ich das Verdeck zugeklappt hatte und die Heizung auf vollen
Touren lief, zog es im Wageninnern, weil sich immer wieder heftige
Windböen unter die Motorhaube verirrten. Mich schauderte bei dem
Gedanken, wie sich der Wagen wohl im Winter fuhr.
»Ich werde das hoffentlich nicht bereuen«, murmelte Bowden.
»Hicks wird nicht sonderlich erfreut sein, wenn er von unserem
Ausflug erfährt.«
»Wer sagt: ›Ich werde das hoffentlich nicht bereuen‹, tut das in der
Regel schon. Also, wenn ich Sie rauslassen soll, brauchen Sie es nur
zu sagen. Zum Teufel mit Hicks. Zum Teufel mit Goliath und Jack
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Schitt. Manche Dinge sind einfach wichtiger als die Vorschriften.
Regierungen und Moden kommen und gehen, aber Jane Eyre ist für
die Ewigkeit. Ich würde buchstäblich alles dafür tun, um den Roman
zu retten.«
Bowden schwieg. Ich hatte das Gefühl, ihm machte sein Job richtig
Spaß, seit wir zusammenarbeiteten. Ich schaltete einen Gang herunter,
überholte einen Lastwagen und sprintete los.
»Woher wußten Sie, daß es um Jane Eyre ging, als ich angerufen
habe?«
Ich dachte einen Moment nach. Wem sollte ich davon erzählen,
wenn nicht Bowden? Ich zog Rochesters Taschentuch hervor. »Sehen
Sie das Monogramm?«
»EFR?«
»Es gehört Edward Fairfax Rochester.«
Bowden sah mich zweifelnd an. »Langsam, Thursday. Ich bin zwar
kein Brontë-Experte, aber so blöd bin ich nicht, daß ich nicht wüßte,
daß diese Figuren nicht echt sind.«
»Ob echt oder nicht, ich bin ihm mehrmals begegnet. Ich habe auch
seine Jacke.«
»Moment mal – das mit Quaverleys Extraktion leuchtet mir ein,
aber was wollen Sie damit andeuten? Daß Charaktere nach Lust und
Laune aus ihren Romanen heraushüpfen können?«
»Zugegeben, das klingt alles sehr merkwürdig, und ich habe auch
keine Erklärung dafür. Aber die Grenze zwischen Rochester und mir
ist irgendwie durchlässig. Und nicht nur ist er aus dem Roman
herausgekommen; sondern einmal, als kleines Mädchen, habe ich
sogar das Buch betreten. Ich kam genau in dem Moment an, als sich
die beiden das erste Mal begegnen. Wissen Sie noch?«
Bowden blickte verlegen aus dem Seitenfenster.
»Ziemlich billig für bleifrei«, sagte er, als wir an einer Tankstelle
vorbeikamen.
Ich erriet den Grund. »Sie haben Jane Eyre nie gelesen, stimmt’s?«
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»Nein …«, stammelte er. »Aber, äh …«
Ich lachte. »Na, na, ein LitAg, der Jane Eyre nicht kennt?«
»Ja, ja, geschenkt. Dafür habe ich Sturmhöhe und Villette gelesen.
Ich wollte mir das Buch zwar vornehmen, aber wie so vieles habe ich
es schlicht vergessen.«
»Dann will ich Ihnen mal ein bißchen auf die Sprünge helfen.«
»Ich bitte darum«, brummte Bowden betreten.
Im Laufe der folgenden Stunde erzählte ich ihm die Geschichte von
Jane Eyre , beginnend mit dem jungen Waisenmädchen Jane, ihrer
Kindheit im Hause von Mrs. Reed und deren Cousinen und ihrer Zeit
in Lowood, einer schrecklichen Armenschule, die von einem
grausamen und scheinheiligen Prediger geleitet wird, über die
Typhusepidemie und den Tod ihrer Freundin Helen Burns bis zu
ihrem Aufstieg zur Musterschülerin und schließlich Lehrerin unter der
Leitung von Miss Temple.
»Jane verläßt Lowood und zieht nach Thornfield, wo sie nur noch
einen Schützling hat, nämlich Rochesters Mündel Adele.«
»Was ist, bitte, ein Mündel?« fragte Bowden.
»Nun ja«, antwortete ich. »Sagen wir, eine dezente Umschreibung
dafür, daß das Mädchen einer früheren Liaison entstammt. Heutzutage
würde Adele auf der Titelseite des Toad als ›Kind der Liebe‹
bloßgestellt.«
»Aber Rochester kommt seinen väterlichen Pflichten doch offenbar
nach?«
»Und ob. Jedenfalls gefällt es Jane in Thornfield ausgesprochen gut,
trotz der sonderbaren Atmosphäre – Jane hat den Eindruck, daß dort
etwas vor sich geht, worüber niemand spricht. Rochester kehrt von
einer längeren Reise heim und erweist sich als mürrisch und
herrschsüchtig; dennoch beeindruckt ihn Janes Seelenstärke, als sie
ihn bei einem mysteriösen
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