01_Der Fall Jane Eyre
haben.«
Er wischte meine Worte brüsk beiseite. »Wollen Sie gleich wieder
zurück?«
Ich blickte zu Boden. »Das ist leider nicht ganz so einfach, Sir.
Außer mir befindet sich noch ein Eindringling in diesem Buch.«
Rochester trat ans Geländer. Er sprach, ohne sich umzudrehen. »Er,
nicht wahr?«
»Sie kennen ihn?« fragte ich erstaunt zurück.
»Er hat viele Namen. Haben Sie einen Plan?«
Ich erklärte ihm das vereinbarte Zeichen und beharrte darauf, daß es
sicherer sei, wenn ich bis zum Ende des Romans in Thornfield bliebe.
Danach würde ich Hades mitnehmen – so oder so.
»Das Ende des Romans«, murmelte Rochester bedrückt. »Wie ich
diesen Schluß doch hasse . Allein der Gedanke, daß meine Jane mit
diesem erbärmlichen Feigling St. John Rivers nach Indien reist, läßt
mir das Blut in den Adern gefrieren.« Er gewann seine
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Selbstbeherrschung zurück. »Aber bis dahin bleiben mir wenigstens
noch ein paar glückliche Monate. Kommen Sie, Sie haben doch gewiß
Hunger.« Er ging den Flur entlang und winkte mir, ihm zu folgen.
»Ich schlage vor, wir fangen ihn , wenn Jane abgereist ist, nach …«
– ihn schauderte bei dem Gedanken – »… nach der Hochzeit. Wir
werden dann ganz allein sein, weil sich mit Jane naturgemäß auch die
Handlung nach Moor House zu diesen albernen Verwandten verlagert.
Da ich im Buch dann nicht mehr vorkomme, können wir tun, was uns
beliebt, und ich bin durchaus geneigt, Ihnen zu helfen.
Doch wie Sie bereits ganz richtig sagten, dürfen Sie Jane auf keinen
Fall beunruhigen oder gar verwirren; dieses Buch ist in der ersten
Person geschrieben. Ich kann mich nur dann davonstehlen, um mit
Ihnen zu sprechen, wenn ich in der Geschichte keine Rolle spiele.
Aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie Jane aus dem Weg gehen.
Mrs. Fairfax und Adele werde ich persönlich ins Vertrauen ziehen sie
werden Verständnis dafür haben. Die Dienstboten Mary und John tun
ohnehin das, was ich ihnen sage.«
Wir standen vor einer Tür, und Rochester klopfte energisch an. Erst
stöhnte jemand, dann tat es einen dumpfen Schlag, und schließlich
erschien eine reichlich aufgelöste Gestalt.
»Mrs. Fairfax«, sagte Rochester, »das ist Miss Next. Sie wird ein
oder zwei Monate bei uns wohnen. Ich möchte, daß Sie ihr etwas zu
essen holen und ein Bett bereiten; sie hat eine weite Reise hinter sich
und bedarf dringend der Stärkung und Ruhe. Es wäre schön, wenn Sie
mit niemandem über ihre Anwesenheit sprechen würden, und ich wäre
Ihnen dankbar, wenn Sie dafür Sorge tragen könnten, daß Miss Next
und Miss Eyre sich nicht begegnen. Ich brauche wohl nicht extra zu
betonen, wie wichtig mir das ist.«
Mrs. Fairfax musterte mich von Kopf bis Fuß, zeigte sich von
meinem Pferdeschwanz und meiner Jeans gleichermaßen bestürzt und
fasziniert, nickte und ging voran zum Speisezimmer.
»Wir unterhalten uns morgen weiter, Miss Next«, sagte Rochester,
und in seinem gramerfüllten Gesicht machte sich ein mattes Lächeln
breit. »Und ich möchte Ihnen nochmals danken.«
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Er wandte sich um und überließ mich Mrs. Fairfax, die sogleich die
Treppe hinunterhastete und mich bat, im Speisezimmer zu warten, sie
werde mir etwas zu essen holen. Kurz darauf brachte sie mir etwas
Brot und kalten Braten. Ich aß gierig, während Pilot – der
hereingekommen sein mußte, als Hades das Haus verließ – mein
Hosenbein beschnüffelte und aufgeregt mit dem Schwanz wedelte.
»Er erinnert sich an Sie«, sagte Mrs. Fairfax verwundert, »aber
obwohl ich seit vielen Jahren hier in Diensten stehe, kann ich mich
nicht entsinnen, Sie schon einmal gesehen zu haben.«
Ich kraulte Pilot hinterm Ohr.
»Ich habe ihn einmal ein Stöckchen apportieren lassen. Bei einem
Spaziergang mit seinem Herrn.«
»Aha«, erwiderte Mrs. Fairfax mißtrauisch. »Und woher kennen Sie
Mr. Rochester?«
»Ich, äh, habe die Rochesters auf Madeira kennengelernt. Ich war
eine Freundin seines Bruders.«
»Aha. Furchtbar tragisch.« Ihre Augen verengten sich. »Dann
kennen Sie die Masons?«
»Nur flüchtig.«
Wieder warf sie einen verstohlenen Blick auf meine Jeans.
»Und wo Sie herkommen, tragen Frauen Hosen?«
»Sehr oft sogar, Mrs. Fairfax.«
»Und woher kommen Sie, wenn ich fragen darf? Aus London?«
»Nein. Von sehr weit her.«
»Ach!« rief Mrs. Fairfax und lächelte verschmitzt. »Aus Osaka,
nicht wahr?«
Nachdem sie mir das heilige Versprechen abgenommen hatte,
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