01_Der Fall Jane Eyre
tatsächlich erlebten Gefühle.«
»Ganz Ihrer Meinung. Hier werde ich weder geboren, noch sterbe
ich. Ich erblicke mit achtunddreißig Jahren das Licht der Welt und
verlasse sie bald darauf schon wieder, nachdem ich mich zum ersten
Mal verliebt und dann das Objekt meiner Verehrung sogleich wieder
eingebüßt habe!«
Er blieb stehen und hob den Stock auf, den Pilot ihm statt des
entwischten Kaninchens gebracht hatte.
»Sie müssen wissen, daß ich mich in Sekundenschnelle an jede
gewünschte Stelle des Romans und wieder zurück expedieren kann;
ein gut Teil meines Lebens liegt zwischen dem Augenblick, da ich
jenem zarten, spitzbübischen Wesen meine aufrichtige Liebe gestehe,
und dem Moment, wo der törichte Mason und sein Anwalt mir die
Hochzeit verderben. In diese Wochen kehre ich am häufigsten zurück,
aber ich besuche auch die schlechten Zeiten – denn ohne einen
Maßstab ist man geneigt, die Höhepunkte für selbstverständlich zu
nehmen. Zuweilen spiele ich mit dem Gedanken, die beiden von John
am Kirchtor abpassen und hinhalten zu lassen, bis die Trauung
abgeschlossen ist, aber das läßt der Roman leider nicht zu.«
»Das heißt, während Sie hier stehen und mit mir plaudern …«
»… begegne ich Jane gleichzeitig zum ersten Mal, umwerbe und
verliere sie für immer. Ich sehe Sie deutlich vor mir, als kleines Kind,
mit angsterfüllter Miene angesichts der donnernden Hufe meines
Pferdes …«
Er betastete seinen Ellbogen.
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»Sogar die Schmerzen spüre ich, die mir der Sturz verursacht.
Wie Sie sehen, hat meine Existenz, obgleich befristet, durchaus ihre
Vorteile.«
Ich seufzte. Ach, wenn das Leben doch auch in Wirklichkeit so
einfach wäre; wenn man sich auf die guten Zeiten beschränken und
die schlechten einfach überspringen könnte …
»Gibt es einen Mann, den Sie lieben?« fragte Rochester mit einem
Mal.
»Ja; aber unser Verhältnis ist gespannt. Er hat meinen Bruder eines
tödlichen Irrtums bezichtigt, und ich fand es ungerecht, den Fehler
einem Toten anzulasten, der sich nicht mehr verteidigen kann. Und
jetzt fällt es mir schwer, ihm zu vergeben.«
»Was gibt es denn da zu vergeben?« fragte Rochester. »Setzen Sie
einen Strich darunter, und konzentrieren Sie sich darauf zu leben . Ihr
Leben ist kurz; viel zu kurz, um die Zeit mit Bösesein zu vertrödeln
und auf das Glück zu verzichten, das ohnehin nur von begrenzter
Dauer ist.«
»Ach!« entgegnete ich. »Er ist verlobt!«
»Na und?« spottete Rochester. »Vermutlich mit jemandem, der
ebensowenig zu ihm paßt wie Blanche Ingram zu mir!«
Ich dachte an Daisy Mutlar, und es schien da in der Tat einige
Parallelen zu geben.
Wir gingen schweigend nebeneinanderher, bis Rochester eine Uhr
aus seiner Westentasche zog. »Meine Jane kehrt soeben aus Gateshead
zurück. Wo sind mein Stift und mein Notizbuch?«
Er kramte in seinen Taschen und förderte einen Bleistift und ein
gebundenes Zeichenbuch zutage. »Ich soll ihr wie zufällig begegnen;
sie wird in Kürze hier übers Feld kommen. Wie sehe ich aus?«
Ich strich seine Krawatte glatt und nickte zufrieden.
»Finden Sie eigentlich, daß ich gut aussehe, Miss Next?« fragte er
gänzlich unerwartet.
»Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß.
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»Pah!« stieß Rochester hervor. »Frauenzimmer! Hinfort, mir aus
den Augen; wir sprechen uns noch!«
Ich ließ ihn stehen und ging am See entlang zum Haus zurück, in
tiefes Nachdenken versunken.
Und so verstrich Woche um Woche, es wurde langsam wärmer, und
die Bäume schlugen aus. Ich bekam Rochester und Jane kaum zu
Gesicht; die beiden hatten nur noch Augen füreinander. Mrs. Fairfax
gefiel die Liaison gar nicht, und ich mußte sie mehrfach ermahnen.
Darüber plusterte sie sich auf wie eine alte Henne und gab sich fortan
verschnupft. Monatelang ging in Thornfield alles seinen gewohnten
Gang; aus dem Frühling wurde Sommer, und auch am Tag der
Hochzeit war ich da, auf Rochesters ausdrückliche Bitte in der
Sakristei versteckt. Ich sah, wie der Pfarrer, ein wohlbeleibter Mann
namens Wood, die Frage stellte, ob einem der Anwesenden ein
Hindernis bekannt sei, welches die Eheschließung vor dem Gesetz
oder vor Gott verbiete. Ich hörte, wie der Anwalt sein schreckliches
Geheimnis preisgab. Rochester geriet völlig außer sich vor Zorn, als
Briggs die eidesstattliche Erklärung verlas und erklärte, die
wahnsinnige Bertha Mason sei Rochesters rechtmäßige Ehefrau.
Während sie noch
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