01_Der Fall Jane Eyre
treffen. Ich hatte ihm beigebracht, mit
Rochesters Pistolen zu schießen, und zu meiner großen Freude erwies
er sich als exzellenter Schütze. Ich hatte angenommen, daß Hades sich
vielleicht unter die Gäste mischen würde, doch abgesehen vom
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Erscheinen Mr. Masons von den Westindischen Inseln ereignete sich
nichts Außergewöhnliches.
Aus Wochen wurden Monate, und obwohl ich Jane – natürlich
absichtlich – nur selten sah, blieb ich mit dem Personal und Mr.
Rochester in ständiger Verbindung, um dafür zu sorgen, daß alles
glattging. Und wie es schien, ging alles glatt. Mr. Mason wurde von
seiner irren Schwester im zweiten Stock gebissen; ich stand vor der
verschlossenen Tür, während Jane die Wunden versorgte und
Rochester nach dem Arzt schickte. Als der Arzt kam, hielt ich draußen
in der Laube Wache, weil ich wußte, daß sich Jane und Rochester dort
treffen würden. Und so ging es ohne Unterlaß, bis Jane zu ihrer
todkranken Tante in Gateshead fuhr.
Inzwischen hatte Rochester beschlossen, Blanche Ingram zu
heiraten, und das Verhältnis zwischen ihm und Jane war merklich
abgekühlt. Als sie abreiste, war ich erleichtert; endlich konnte ich
mich ein wenig entspannen und mich in Ruhe mit Rochester
unterhalten, ohne Janes Verdacht zu erregen.
»Sie bekommen zuwenig Schlaf«, bemerkte Rochester bei einem
gemeinsamen Spaziergang über die Wiese. »Sie wirken müde und
haben dunkle Ringe unter den Augen.«
»Ich schlafe nicht sehr gut, jedenfalls nicht, solange Hades kaum
fünf Meilen entfernt ist.«
»Aber Ihre Späher würden Ihnen doch gewiß mitteilen, wenn er
etwas unternähme?«
Er hatte recht; das Spionagenetz funktionierte tadellos, wenn auch
nur dank Rochesters beträchtlicher finanzieller Unterstützung. Wenn
Hades den Fuß vor die Tür setzte, erfuhr ich es binnen zwei Minuten,
von einem Reiter, der sich für ebendiesen Fall bereithielt. So wußte
ich jederzeit, wo ich ihn finden konnte, einerlei ob er einen
Spaziergang machte, las oder die Bauern mit seinem Stock
verprügelte. Er hatte sich nie näher als eine Meile an das Haus
herangewagt, und so sollte es auch bleiben.
»Meine Späher haben mir bislang nichts Beunruhigendes berichtet,
obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, daß jemand
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wie Hades tatsächlich so untätig ist. Ich finde das geradezu
beängstigend.«
So gingen wir eine Weile vor uns hin. Rochester zeigte mir
allerhand Interessantes, doch ich war nicht recht bei der Sache.
»Wie sind Sie eigentlich zu mir gekommen in jener Nacht, als ich
angeschossen vor dem Lagerhaus lag?« fragte ich schließlich.
Rochester blieb stehen und sah mich an.
»Es ist einfach geschehen , Miss Next. Ich kann es Ihnen nicht
erklären, ebensowenig wie Sie mir erklären können, wie Sie als
kleines Mädchen hierhergelangt sind. Außer Mrs. Nakijima und einem
Reisenden namens Foyle ist mir auch niemand sonst bekannt, dem das
je gelungen wäre.«
Ich war erstaunt. »Sie kennen Mrs. Nakijima?«
»Selbstverständlich. Gewöhnlich zeige ich ihren Gästen Thornfield,
solange Jane in Gateshead weilt. Das ist völlig ungefährlich und –
nebenbei gesagt – auch sehr lukrativ. Ein Landhaus zu unterhalten ist
auch in diesem Jahrhundert nicht gerade billig, Miss Next.«
Ich gönnte mir ein Lächeln. Mrs. Nakijima sahnte dabei vermutlich
ordentlich ab; schließlich war eine Reise wie diese der Wunschtraum
jedes Brontë-Fans, und davon gab es in Japan jede Menge.
»Was haben Sie vor, wenn Ihre Arbeit hier beendet ist?« fragte
Rochester und zeigte Pilot ein Kaninchen; der rannte bellend davon.
»Zurück zu SpecOps«, antwortete ich. »Und Sie?«
Rochester sah mich nachdenklich an; er runzelte die Stirn, und ein
zorniger Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Wenn Jane mit diesem
schleimigen St. John Rivers fortgeht, ist es mit mir aus und vorbei.«
»Und was wollen Sie dann tun?«
»Tun? Nichts. Das bedeutet mein Ende.«
»Den Tod?«
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»Nicht direkt«, entgegnete Rochester und wählte seine Worte mit
Bedacht. »Wo Sie herkommen, wird man geboren, lebt und stirbt.
Habe ich recht?«
»Mehr oder weniger.«
»Was für ein jämmerliches Dasein muß das sein!« rief Rochester
lachend. »Und wenn Sie niedergeschlagen sind, suchen Sie vermutlich
Trost bei jenem inneren Auge, das wir Gedächtnis nennen, nicht?«
»Meistens«, antwortete ich, »obwohl das Gedächtnis hundertmal
schwächer ist als unsere
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