01_Der Fall Jane Eyre
Mann im teuren Anzug.
»Wie bitte?« fragte ich etwas verdattert, weil er mich so
unvermittelt aus meinen Gedanken gerissen hatte.
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»Ich möchte mich mit Ihnen über Acheron unterhalten, Miss Next.«
»Das ist einer der beiden Flüsse in die Unterwelt«, erklärte ich ihm.
»Gehen Sie in die Stadtbibliothek und schlagen Sie unter griechischer
Mythologie nach.«
»Ich meinte nicht den Fluß.«
Ich starrte ihn einen Moment lang an und versuchte hinter seine
Identität zu kommen. Ein kleiner, flacher Hut saß schräg auf seinem
rundlichen Schädel, der an einen kurzgeschorenen Tennisball
erinnerte. Er hatte kantige Züge, schmale Lippen und war alles andere
als attraktiv. Er protzte mit schwerem Goldschmuck und einer
Krawattennadel, die funkelte und glänzte wie ein Diamant. Über
seinen schwarzen Lackschuhen spannten sich weiße Gamaschen, und
eine goldene Uhrkette baumelte an seiner Westentasche. Er war nicht
allein. Ein junger Mann – ebenfalls im dunklen Anzug, der an der
Stelle, wo man normalerweise eine Pistole trug, eine verräterische
Beule aufwies – stand neben ihm. Ich war so sehr in Gedanken
versunken gewesen, daß ich die beiden nicht gehört hatte. Sie kamen
vermutlich von der SpecOps-Dienstaufsicht; wahrscheinlich waren
Flanker und Co. noch nicht fertig mit mir.
»Hades ist tot«, antwortete ich kurz und knapp, da ich keine Lust auf
Diskussionen hatte.
»Das glauben Sie doch nicht im Ernst.«
»Nun ja, ich bin wegen Streß ein halbes Jahr krankgeschrieben.
Mein Therapeut meint, ich leide unter dem False Memory Syndrome
und schweren Halluzinationen. Ich an Ihrer Stelle würde mir kein
Wort glauben – einschließlich dessen, was ich gerade gesagt habe.«
Das Lächeln des kleinen Mannes entblößte einen großen Goldzahn.
»Ich glaube, Sie leiden ganz und gar nicht unter Streß, Miss Next. Sie
sind genauso klar im Kopf wie ich. Wenn jemand, der die Krim, die
Polizei und acht Jahre LitAg überlebt hat, zu mir käme und mir
erzählen würde, daß Hades noch lebt, dann würde ich auf ihn hören.«
»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
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Er reichte mir eine Karte mit Goldrand, auf der das dunkelblaue
Logo der Goliath Corporation prangte.
»Mein Name ist Schitt«, sagte er. »Jack Schitt.«
Ich zuckte die Achseln. Laut seiner Karte war er der Leiter von
Goliaths Sicherheitsdienst, einer zwielichtigen Organisation, die nicht
der Kontrolle durch die Regierung unterlag; die Verfassung
garantierte ihr im ganzen Land freie Hand. Ranghohe Mitarbeiter der
Goliath Corporation saßen als Ehrenmitglieder in beiden Häusern des
Parlaments und als Berater im Finanzministerium. Goliath hatte seine
Leute im Auswahlgremium für die Richter des Obersten Gerichtshofs,
und die wichtigen Fachbereiche der meisten größeren Universitäten
wurden von Goliath-Angehörigen geleitet. Niemand war sich
überhaupt bewußt, welchen Einfluß sie hatten, was bewies, daß sie
erstklassige Arbeit leisteten. Doch obgleich Goliath scheinbar nichts
als das Wohl der Menschen im Auge hatte, regte sich allmählich
Kritik an der uneingeschränkten Vormachtstellung des Konzerns.
Seine Beamten waren weder vom Volk noch von der Regierung
gewählt, und seine Aktivitäten waren bis in alle Ewigkeit gesetzlich
abgesegnet. Kaum ein Politiker wagte seinen Unmut darüber zu
äußern.
Ich setzte mich neben ihn auf die Bank, und er schickte seinen
Gorilla weg.
»Was interessiert Sie eigentlich so sehr an Hades, Mr. Schitt?«
»Ich will wissen, ob er tot ist oder noch lebt.«
»Haben Sie den gerichtsmedizinischen Bericht nicht gelesen?«
»Darin stand nur, daß ein Mann von Hades’ Größe und Statur mit
identischem Gebiß in einem Auto verbrannt ist. Hades hat sich schon
aus übleren Situationen befreit. Ich habe auch Ihren Bericht gelesen;
weitaus interessanter. Keine Ahnung, weshalb die Armleuchter von
SO-1 nichts davon wissen wollten. Jetzt, wo Tamworth tot ist, sind Sie
die einzige, die Hades kennt. Wer am fraglichen Abend den
entscheidenden Fehler begangen hat, ist mir egal. Mich interessiert
vielmehr: Was hatte Hades mit dem Chuzzlewit- Manuskript vor?«
»Erpressung, vielleicht?« schlug ich vor.
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»Schon möglich. Wo ist es jetzt?«
»Hatte er es denn nicht bei sich?«
»Nein«, antwortete Schitt tonlos. »Bei Ihrer Vernehmung haben Sie
ausgesagt, daß es in einem Lederkoffer steckte. In dem ausgebrannten
Autowrack war von einem Lederkoffer keine
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