01_Der Fall Jane Eyre
mir wieder in den
Sinn; und da ich kein Kind mehr war, nahmen sie eine Kraft und
Lebendigkeit an, die über das Gruseln eines verschrecktet kleinen
Mädchens hinausging …
Ich schloß die Augen, und plötzlich erfüllte ein leichter Frost die
Atmosphäre ringsum. Die Stimme der Touristin war mit einem Mal
ganz klar, so als spräche sie im Freien, und als ich die Augen wieder
aufschlug, war das Museum verschwunden, und ich stand auf einen
Feldweg. Es war ein herrlicher Winterabend, und die Sonne versank
am Horizont. Kein Lüftchen regte sich, und die Farben verblaßten
Abgesehen von ein paar Vögeln, die von Zeit zu Zeit durch die Hecke
huschten, lag die Landschaft gänzlich starr und unbewegt Schaudernd
sah ich, wie sich mein dampfender Atem in der kühler Luft kräuselte,
zog den Reißverschluß meiner Jacke zu und bereute daß ich Mütze
und Handschuhe daheimgelassen hatte. Ich schaut mich um und stellte
fest, daß ich nicht allein war. Kaum drei Meter entfernt saß eine junge
Frau in Mantel und Haube auf einem Zauntritt und betrachtete den
aufgehenden Mond. Als sie den Kopf wandte, sah ich, daß ihr Gesicht
auf den ersten Blick unscheinbar und reizlos wirkte und dennoch von
innerer Kraft und Entschlossenheit zeugte. Ich starrte sie mit
gemischten Gefühlen an. Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit erkannt,
daß auch ich keine Schönheit war, und selbst im zarten Alter von neun
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Jahren schon mehrfach mit ansehen müssen, wie hübschere Kinder
bevorzugt wurden. Doch die junge Frau hier war der lebende Beweis
dafür, daß sich diese Prinzipien umkehren ließen. Ihre Haltung
unbewußt nachahmend, hob ich den Kopf und reckte das Kinn.
Ich wollte sie gerade fragen, wohin das Museum verschwunden sei,
als uns ein Geräusch herumfahren ließ. Es war ein heranpreschendes
Pferd, und im ersten Moment wirkte die junge Frau erschrocken. Der
Weg war schmal, und ich trat zurück, um das Pferd vorbeizulassen.
Während ich noch wartete, kam ein großer, schwarzweiß gefleckter
Hund die Hecke entlanggelaufen und schnüffelte forschend umher.
Der Hund ignorierte die Gestalt auf dem Zauntritt, blieb jedoch
schlagartig stehen, als er mich sah. Begeistert mit dem Schwanz
wedelnd, sprang er auf mich zu und beschnupperte mich; sein heißer
Atem hüllte mich in einen warmen Mantel, und seine Barthaare
kitzelten meine Wange. Als ich zu kichern anfing, wedelte der Hund
noch aufgeregter mit dem Schwanz. Er schnüffelte seit 130 Jahren bei
jeder Lektüre des Romans an dieser Hecke entlang, war dabei aber
noch nie auf etwas gestoßen, das so, na ja … echt roch. Er schleckte
mich mehrmals ab, mit großer Zuneigung und Hingabe. Ich stieß ihn
kichernd von mir, und er lief davon, um einen Stock zu suchen.
Heute, nach mehrfacher Lektüre des Romans, weiß ich, daß der
Hund – er hieß Pilot – im Buch nie Stöckchen suchen durfte, weil er
dazu viel zu selten auftrat, weshalb er sich diese Gelegenheit auf
keinen Fall entgehen lassen wollte. Vermutlich hatte er instinktiv
gespürt, daß das kleine Mädchen, das da plötzlich auf Seite 81
auftauchte, nicht an die strenge Erzählstruktur gebunden war. Er
wußte, daß er die Grenzen der Geschichte hier und da ein klein wenig
ausweiten und sich zum Beispiel aussuchen konnte, auf welcher Seite
des Weges er schnüffeln wollte; wenn jedoch im Text stand, daß er
bellen, umherrennen oder aufspringen sollte, mußte er sich wohl oder
übel danach richten. Er war zu einem langen, sich endlos
wiederholenden Dasein verurteilt, was die seltenen Auftritte von
Menschen wie mir um so erfreulicher machte.
Als ich aufblickte, stellte ich fest, daß Roß und Reiter die junge Frau
passiert hatten. Der Reiter war ein hochgewachsener Mann mit scharf
geschnittenen Zügen und einem von Sorgen geprägten Gesicht, dessen
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Stirn von düsteren Gedanken umwölkt schien. Er hatte meine kleine
Gestalt bislang nicht bemerkt, dabei führte ihn sein Weg genau dort
entlang, wo ich jetzt stand, über eine tückische Eispfütze hinweg.
Gleich darauf stand das Pferd vor mir, trappelte mit schweren Hufen
über den gefrorenen Boden und blies mir aus samtigen Nüstern seinen
heißen Atem ins Gesicht.
Plötzlich, als er das kleine Mädchen sah, das ihm den Weg
verstellte, rief der Reiter: »Verflucht …!« und lenkte das Pferd rasch
nach links, von mir fort, auf das glatte Eis. Das Pferd verlor den Halt
und stürzte krachend zu Boden. Ich trat einen
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