01_Der Fall Jane Eyre
umgeblättert, so daß die ehrgeizigsten
Brontë-Anhänger und Stammbesucher des Museums den Roman in
seiner ursprünglichen Fassung lesen konnten.
An dem Tag, als ich Haworth House besuchte, lag das Manuskript
an der Stelle aufgeschlagen, wo sich Jane und Rochester das erste Mal
begegnen, ein zufälliges Zusammentreffen an einem Zauntritt.
»… weshalb es als eines der romantischsten Bücher gilt, die je
geschrieben wurden«, leierte die ebenso dickliche wie aufgeblasene
Führerin ihren ewiggleichen Monolog herunter, ohne die erhobenen
Hände lästiger Fragesteller zu beachten.
»Die Figur der Jane Eyre, einer starken, selbstbestimmten Frau,
unterschied sich grundlegend von den üblichen Romanheldinnen jener
Zeit, und auch Rochester, ein abstoßender, im Grunde jedoch
herzensguter Mensch, fiel durch seine Charakterschwächen und seinen
makabren Humor sehr aus dem Rahmen. Jane Eyre schrieb Charlotte
Brontë 1847 unter dem Pseudonym Currer Bell. Thackerey nannte den
Roman ›das Meisterwerk eines großen Genies‹. Wir gehen nun weiter
zum Museumsladen, wo Sie Ansichtskarten, Gedenktafeln, kleine
Plastik-Heathcliffs und andere Souvenirs kaufen können. Ich danke
Ihnen für Ihre …«
Einer der Zuhörer hob kurzentschlossen die Hand und fiel ihr ins
Wort. »Entschuldigen Sie …«, begann der junge Mann mit
amerikanischem Akzent.
Ein Wangenmuskel der Museumsführerin zuckte kaum merklich; es
kostete sie sichtlich Überwindung, anderer Leute Ansichten Gehör zu
schenken. »Ja?« fragte sie mit eisiger Höflichkeit.
»Also«, fuhr der junge Mann fort. »Die Brontës waren bisher
eigentlich nicht so mein Ding, aber ich hatte irgendwie ziemliche
Probleme mit dem Schluß von Jane Eyre .«
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»Probleme?«
»Ja. Wenn Jane aus Thornfield Hall abhaut und bei ihren
Verwandten, den Rivers, unterkommt.«
»Der Name ihrer Verwandten ist mir durchaus geläufig, junger
Mann.«
»Also, sie läßt sich mit diesem schleimigen St. John Rivers ein,
heiratet ihn aber nicht, die beiden setzen sich nach Indien ab, und
damit ist das Teil zu Ende? Das kann doch nich’ sein! Was wird aus
Rochester und seiner verrückten Frau? Wie wär’s denn mit ’nem
Happy End?«
Die Museumsführerin schaute finster drein. »Wie hätten Sie’s denn
gern? Sollen Gut und Böse sich in den Gängen von Thornfield Hall
vielleicht einen Kampf auf Leben und Tod liefern?«
»So hab ich das nicht gemeint«, fuhr der junge Mann leicht
verärgert fort. »Aber das Buch schreit doch geradezu nach einem
starken Schluß, der sämtliche Erzählstränge miteinander verknüpft
und die Geschichte zu einem befriedigenden Ende bringt. Für mich
sieht es allerdings eher so aus, als ob ihr schlicht die Puste
ausgegangen wäre.«
Die Museumsführerin starrte ihn durch ihre Nickelbrille
durchdringend an und fragte sich offenbar, weshalb die Besucher sich
nicht einfach wie Schafe benehmen konnten. Leider hatte der Mann
nicht ganz unrecht; sie hatte schon des öfteren über den schwachen
Schluß des Romans nachgedacht und sich – wie Millionen anderer
Leser – gewünscht, die Umstände hätten es Jane und Rochester
gestattet, doch noch den Bund der Ehe einzugehen.
»Manche Dinge werden ewig ein Geheimnis bleiben«, erwiderte sie
unverbindlich. »Da Charlotte nicht mehr unter uns weilt, erübrigt sich
diese Frage von selbst. Wir können nur das studieren und genießen,
was sie uns hinterlassen hat. Außerdem macht ihre überaus lebendige
Sprache die winzigen Unzulänglichkeiten des Romans mehr als wett.«
Der junge Amerikaner nickte, und die kleine Gruppe, darunter auch
meine Tante und mein Onkel, gingen weiter. Ich blieb zurück bis
außer mir und einer japanischen Touristin niemand mehr in Saal war;
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dann stieg ich auf die Zehenspitzen und versuchte da
Originalmanuskript von Jane Eyre zu lesen. Was sich als nicht ganz
leicht erwies, da ich für mein Alter ziemlich klein war.
»Soll ich es dir vorlesen?« fragte eine freundliche Stimme dich
neben mir. Es war die japanische Touristin. Sie schenkte mir ein
Lächeln, und ich dankte ihr für ihre Mühe.
Sie vergewisserte sich, daß niemand in der Nähe war, setzte ihn
Brille auf und fing an zu lesen. Sie sprach hervorragend Englisch und
hatte eine wunderbare Lesestimme; die Worte perlten von Papier und
beflügelten mein Vorstellungsvermögen.
… Damals spukten noch allerlei Phantasien in meinem Kopf
Geistergeschichten aus meiner Kindheit kamen
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