01 - Der Geist, der mich liebte
ich die Augen zusammen und spähte ins Halbdunkel am Fuß der Bäume. Zwischen Farnen und hüfthohem Gras glaubte ich, vereinzelte Schatten ausmachen zu können. Vielleicht Teile einer alten Mauer. Ohne meine Augen von den Schemen zu lösen, die dort dunkel aus dem Boden ragten, trat ich noch näher. Umrisse schälten sich aus dem Zwielicht, schief und halb in den Erdboden eingesunken. Ich blieb abrupt stehen. Moosüberwucherte Klumpen wuchsen in unregelmäßigen Abständen aus dem Boden. Was ich zunächst für die Überreste einer Mauer gehalten hatte, entpuppte sich als etwas vollkommen anderes. Schlagartig war die Kälte wieder da, von der ich geglaubt hatte, sie im Haus zurückgelassen zu haben. Eine schmerzhaft prickelnde Gänsehaut überzog meine Arme und meinen Rücken, als ich mit pochendem Herzen auf die Grabsteine starrte, die sich vor mir aus dem Grün erhoben.
Der Anblick des alten, verwilderten Friedhofs trieb mich ins Haus zurück. Drinnen war es noch immer kühl, doch plötzlich machte es mir weniger aus als noch vor ein paar Minuten. Ich warf die Terrassentür hinter mir zu und starrte aus dem Fenster. Mein Herz hämmerte noch immer wie wild und wollte sich nur sehr langsam beruhigen. Immer wieder versuchte ich mir einzureden, dass es Unsinn war, sich wegen eines Friedhofs aufzuregen. Ein Teil von mir war sogar bereit, das zu akzeptieren. Der andere Teil jedoch hatte bei Weitem zu viele Horrorfilme gesehen, um die Nähe der Toten einfach so zu verdrängen.
»Okay, Sam«, murmelte ich und erschrak, als meine Stimme empfindlich laut durch die Stille schnitt, »krieg dich wieder ein!« Immerhin war ich diejenige, die sich jedes Mal darüber beklagte, wie unglaubwürdig Horrorfilme doch waren. Trotzdem hatten sich sichtlich einige Geschichten ein wenig zu sehr in mein Hirn gebrannt, ich zwang mich, tief durchzuatmen. Was hatte ich schon gesehen? Ein paar völlig überwucherte, windschiefe Steinklumpen. So wie es dort ausgesehen hatte, wurde dieser Teil
des Friedhofs bereits seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt. Vermutlich waren selbst die Geister längst an Altersschwäche oder Langeweile gestorben. Die frischen Gräber mussten sich an einer anderen Stelle - weiter weg von meinem Haus - befinden. Irgendwie war der Gedanke beruhigend. Dann jedoch fragte ich mich, wie das möglich war. Sollten nicht gerade die ältesten Gräber nahe der Kirche sein? Ich schüttelte den Kopf und beschloss, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Zumindest vorerst nicht.
Meine Einstellung zum Haus hatte sich jedoch grundlegend geändert. Es war jetzt weit mehr als Tante Fionas gemütliches Heim. Es war das Haus am Friedhof.
Ich versuchte zu überschlagen, wie lange mein Aufenthalt in Cedars Creek wohl dauern mochte. Selbst bei vorsichtigen Schätzungen - ohne das gesamte Haus zu kennen und zu wissen, wie gut meine Chancen standen, es an den Mann zu bringen - würde ich wohl mindestens die nächsten drei oder vier Wochen hier festsitzen. Ob ich doch einen Makler ...? Nein! Den Gedanken, mir im Ort ein Zimmer zu mieten und nur tagsüber herzukommen, um im Haus zu arbeiten, verwarf ich ebenso rasch wieder. Tante Fiona hatte ihr ganzes Leben in diesem Haus verbracht. Was waren im Vergleich dazu schon ein paar Wochen ?
Ein schriller Laut durchschnitt die Stille und ließ mich heftig zusammenfahren. Mein Handy! Ich fischte es aus der Jeanstasche und warf einen Blick auf das Display, bereit, den Anrufer wegzudrücken, falls es meine Mom war. Mir stand im Augenblick nicht der Sinn danach, mit ihr zu sprechen. Sie würde nur die leidige Diskussion fortführen, mit
der sie seit Wochen versuchte, mich dazu zu bewegen, nicht nach Boston zu gehen. Als ich Sues Nummer sah, nahm ich das Gespräch erleichtert an. »Hi, Sue.«
»Samt«, schallte mir Sues Stimme blechern entgegen. Die Verbindung war nicht besonders gut. »Warum hast du dich nicht gemeldet? Ich habe seit drei Tagen nichts mehr von dir gehört!«
Ich seufzte. »Entschuldige. Ich war einfach zu müde. Wenn ich abends aus dem Auto gestiegen bin, wollte ich nur noch ins Bett.«
Am anderen Ende stieß Sue hörbar den Atem aus. Ich wusste, dass sie sich Sorgen um mich machte, und es tat mir leid, mich nicht früher gemeldet zu haben.
»Wo steckst du jetzt?«, fragte Sue.
»Cedars Creek. Bin gerade angekommen.«
Meinen Worten folgte eine kurze Pause. Dann fragte sie: »Und? Geht es dir gut? Kommst du klar?«
Für einen Moment war ich versucht, ihr die Wahrheit zu sagen.
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