01 - Der Geist, der mich liebte
ich auf dem Gehweg und fragte mich, was ich jetzt tun sollte. Da erinnerte ich mich an ihre Telefonnummer. Ich ging zum Käfer zurück und kramte mein Handy aus dem Rucksack. In dem Moment, als ich das Handy in die Hand nahm, klingelte es. Ich fuhr erschrocken zusammen und hätte es um ein Haar fallen lassen. Erschrocken starrte ich auf das Gerät. Auf dem Display stand Sues Nummer. Ich lehnte den Anruf ab und drückte die Kurzwahltaste so lange, bis Tess' Nummer erschien. Dann hielt ich mir das Handy ans Ohr und wartete auf das Freizeichen. Es klingelte fast zehnmal und ich fürchtete schon, Tess sei nicht zu Hause, als endlich jemand ranging.
»Tess«, rief ich, ehe sie etwas sagen konnte. »Ich brauche dich. Dringend! Können wir uns treffen?«
»Sam? Bist du das?«
»Ja. Bitte. Es ist sehr wichtig!«
»Ist etwas passiert?« Eine kurze Pause, dann: »Komm zu mir nach Hause.« In knappen Worten beschrieb sie mir den Weg. Sobald ich wusste, wo ich hinmusste, legte ich auf und stieg wieder in den Wagen. Sie wohnte in der Hampton Road, keine drei Straßen von der Bibliothek entfernt. Trotzdem fuhr ich mit dem Auto. Sobald ich die Main Street hinter mir ließ, rückten die Häuser weiter auseinander. Jedes einzelne Haus hier war von einem kleinen Garten umgeben. Die meisten hatten eine Garage. Ich hielt direkt vor dem Eingang, sprang aus dem Wagen und rannte zur Tür. Ich war noch immer so aufgeregt, dass ich nicht mal fähig war, die Klingel zu drücken. Statt also zu klingeln, klopfte ich lautstark gegen die Tür. Einen Augenblick später öffnete Tess.
»Du meine Güte, Sam! Du bist ja ganz bleich! Komm erst mal rein.« Sie packte mich am Arm und zog mich ins Haus. Ein schattiger Flur empfing mich. So kühl, dass ich einen Moment zurückschreckte, bevor ich begriff, dass es nichts weiter als der Wechsel zwischen langsam schwindendem Tageslicht und schattigem Gebäude war. Keine unnatürliche Kälte wie in meinem Haus.
Tess schob mich in ihr Wohnzimmer. Dort war es angenehm warm. Ich atmete erleichtert durch. Es gab keine Couch, stattdessen lagen eine Menge großer, terrakotta-farbener Sitzkissen um einen niedrigen Tisch aus dunklem Palisander verteilt.
»Setz dich! Ich hole dir was zu trinken.«
Wie von selbst ließ ich mich in die Kissen sinken. Meine
Augen wanderten die beige gestrichene Wand entlang, über einen Schrank und eine Glasvitrine voller Kleinkram. Überall auf den Regalen standen Bücher, dazwischen unzählige Kerzen. Auf einem Beistelltisch entdeckte ich eine Duftlampe, daneben lagen Räucherstäbchen. Bunte Stoffe in warmen Farben zierten Teile der Wände ebenso wie die Fenster und über mir hing ein riesiger Fächer aus Bambus an der Wand. Alles in allem erinnerte das Zimmer mehr an ein orientalisches Gemach als an ein Wohnzimmer. Zumindest lenkte mich der Anblick für eine Weile ab.
Schließlich kehrte Tess mit zwei Gläsern und einer Flasche 7up zurück und ließ sich im Schneidersitz neben mir nieder.
»Was ist passiert?«, fragte sie, während sie einschenkte.
Wie sollte ich das erklären, ohne dass sie mich für durchgedreht hielt? Was, wenn gar nichts geschehen war und ich mir alles nur eingebildet hatte? Nein, der Schriftzug war ebenso real gewesen wie die Kälte!
»Ich glaube ...«, setzte ich an, dann versagte mir die Stimme. Ich griff nach meinem Glas und leerte es in einem Zug. »In meinem Haus spukt es!«, platzte ich heraus.
Statt zu lachen, wie ich erwartet hatte, sah Tess mich ernst an. »Wie lange weißt du das schon?« Dass sie nicht einmal ansatzweise an meinen Worten zu zweifeln schien, war das Schlimmste.
»Ich habe es schon in der ersten Nacht geahnt.« Anfangs stockend und nur sehr zögernd erzählte ich ihr von der Kälte im Haus, dem Friedhof dahinter und von der ersten Nacht, als ich geglaubt hatte, ein Mann würde sich über
mein Bett beugen. »Ich habe gedacht, ich hätte schlecht geträumt. So was passiert mir manchmal. Dann kommt es mir ganz real vor. Aber dann, vorhin im Bad ...« Nachdem ich einmal begonnen hatte, sprudelten die Worte jetzt nur so aus mir heraus. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich nicht länger den Mund halten können. Meine Worte überschlugen sich derart, dass Tess mich mehrmals unterbrach und mir sagte, ich solle langsamer sprechen. Als ich schließlich mit meinem Bericht fertig war, ließ sie sich die Geschehnisse im Bad noch zweimal beschreiben. Sie stellte keine Fragen, hörte einfach nur zu und
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