01 - Der Geist, der mich liebte
ich. »Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen!« Deutlich erinnerte ich mich an den Schemen, der sich über mich gebeugt hatte - und an die sanfte Stimme, die mir zuflüsterte, ich solle keine Angst haben. Immerhin hatte er versucht, mich zu beruhigen.
»Setz dich doch«, bat er, »dann erkläre ich dir alles.«
Ich fuhr mir mit der Hand über den Nacken. Eine Weile stand ich nur da und starrte ihn unbehaglich an. Nach meiner Ankunft in einer Kleinstadt und dem Haus am Friedhof sprach ich jetzt auch noch mit einem Geist. Das war eindeutig ein neuer Tiefpunkt in meinem Leben. »Bei einem Geist zu sitzen gefällt mir wirklich nicht«, gestand ich schließlich.
Er wirkte verblüfft. »Du hast drei Tage mit mir im selben Haus verbracht, und nur weil du mich jetzt auch sehen kannst, willst du davonlaufen? Setz dich!« Ein wenig sanfter fügte er hinzu: »Bitte.«
Ohne ihn aus den Augen zu lassen, ließ ich mich mit angezogenen Knien auf dem Bett nieder. Der Sessel wäre mir lieber gewesen, aber da saß ja er. Und der Stuhl lag am anderen Ende des Raumes. »Okay, lass uns das mal klarstellen: Ich kann dich sehen, weil ich dich beschworen habe. Bedeutet das, Tess würde dich auch sehen ?«
Er nickte.
»Warum hockst du dann hier oben herum und erschreckst mich zu Tode, statt dich uns am Ende dieses blöden Rituals zu zeigen, wie es sich gehört hätte?«, bohrte ich weiter.
Ein breites Grinsen ließ seine Augen nur noch mehr strahlen. »Man könnte fast glauben, du bist wütend.«
»Wütend?«, fuhr ich ihn an. »Ich bin stinksauer! Hast du überhaupt eine Ahnung, welche Angst du mir während der letzten Tage eingejagt hast - vor allem mit dieser Spiegelaktion!«
Jetzt wurde er schlagartig ernst. »Ich hatte nicht vor, dich zu erschrecken. Es ist nur nicht ganz einfach für einen Geist, sich bemerkbar zu machen, ohne dass jemand erschrickt.«
Da musste ich ihm Recht geben. »Mag sein, aber warum erst jetzt? Warum nicht gleich nach dem ganzen Beschwörungsfirlefanz ?«
»Ich wollte mich deiner Freundin nicht zeigen.«
Prima. Ich hatte also auch noch die Exklusivrechte auf dieses Gespenst. »Können wir vielleicht noch eine Frage klären, die mich wirklich sehr beschäftigt?« Ich wartete gar nicht erst auf seine Antwort, sondern schob die drängende Frage gleich hinterher: »Bist du gefährlich?«
Er sah aus, als würde er jeden Augenblick losprusten. Zugegeben, meine Frage war reichlich dämlich. Welcher psychopathische Massenmörder würde seinem Opfer darauf schon ehrlich antworten ? Irgendwie schaffte er es dann doch, nicht zu lachen. »Sam, ich habe nicht vor, dir etwas
zu tun. Alles, was ich will, ist deine Hilfe.« Plötzlich wirkte er traurig. »Ich möchte endlich Frieden finden. Weil du in meiner Gegenwart ständig frierst, wusste ich, dass du meine Anwesenheit spüren kannst. Deshalb habe ich versucht dich auf mich aufmerksam zu machen.«
»Gibt es niemand anderen, der dir helfen kann?«, konterte ich trotzig.
»Ich fürchte nein«, seufzte er. »Ich bin in einem engen Umkreis an den Friedhof gebunden. Weiter als bis zu deinem Vorgarten komme ich nicht. Natürlich habe ich im Laufe der Jahre versucht...«
»Im Laufe der Jahre?«, entfuhr es mir. »Wie lange spukst du hier schon rum?«
»Seit 1955.«
Das erklärte die Klamotten. »Wow!« Mehr brachte ich nicht raus.
»Jedenfalls habe ich im Laufe der Jahre wirklich versucht, jemanden auf mich aufmerksam zu machen. Erfolglos. Die Leute, die den Friedhof besuchen, sind zu sehr in ihre Trauer versunken, um mich zu bemerken. Der alte Pfarrer war nicht feinfühlig genug und der jetzige, Reverend Jones, ist meistens betrunken und interessiert sich nur für seinen Whiskey.« Er zuckte die Schultern. »Und sonst ist niemand hier.«
Niemand. Plötzlich musste ich an Tante Fionas Herzinfarkt denken. Was, wenn ...? Plötzlich wurde mir eiskalt. Viel kälter noch, als mir je in seiner Nähe gewesen war. Mein Mund wurde trocken. Obwohl ich die Antwort fürchtete, musste ich es einfach wissen. »Hast du versucht,
die Frau, die vor mir hier war, auf dich aufmerksam zu machen?«
»Fiona?« Er schüttelte den Kopf. »Ich war oft hier, doch sie konnte meine Anwesenheit nicht spüren. Ich bin auch erst ständig in diesem Haus, seit du hier bist. Davor bin ich umhergestreift.« Plötzlich fragte er: »Bist du sehr traurig wegen deiner Tante?«
Die Frage überraschte mich. Ich erinnerte mich daran, wie ich beim Anblick von Tante Fionas Schlafzimmer zu
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