01 - Der Geist, der mich liebte
weinen begonnen hatte. Kurz darauf war ein kühler Hauch an meiner Wange gewesen. Hatte er mich etwa trösten wollen? »Ja, bin ich.«
»Vielleicht hilft es dir, wenn ich dir sage, dass sie nicht krank war.«
»Woher willst du das wissen?« Mit ihrem behandelnden Arzt hatte er wohl kaum gesprochen.
»Als sie das Haus verließ, da habe ich ... Ich habe nichts gespürt. Ihr fehlte nichts.«
Ich runzelte die Stirn. »Was willst du damit sagen?«
»Ich weiß nicht, woran sie gestorben ist«, begann er vorsichtig, als sei ihm plötzlich klar geworden, dass er sich auf unsicherem Grund bewegte. »Vermutlich ein Unfall. Etwas, was sehr plötzlich kam. Ich will damit auch nur sagen, dass es sehr schnell gegangen sein muss und sie sicher nicht gelitten hat. Ich weiß, das macht sie nicht wieder lebendig, aber vielleicht ist es ...«
»Ein Trost?«
Er nickte.
Natürlich war es besser zu wissen, dass Tante Fiona
nicht leiden musste. Aber noch lieber wäre es mir gewesen wenn sie einfach nicht gestorben wäre. »Zu wissen, dass schnell ging, hilft ein wenig. Aber in einem Punkt irrst d dich. Es war kein Unfall, sondern ein Herzinfarkt.«
Er sah ruckartig auf. »Das ist nicht möglich! Als sie da Haus verließ, habe ich nichts gespürt!«
»Was meinst du mit »nichts gespürt« Seine merkwürdigen Andeutungen gepaart mit meinem Halbwissen machten mich allmählich nervös. Ganz abgesehen davon, dass er ein Geist war!
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Eine seltsam menschliche Geste. Mehr jedoch erstaunte mich, wie unruhig er plötzlich wirkte. Als er auch noch aufstand und begann, vor mir auf und ab zu laufen, hielt ich es nicht mehr aus.
»Hör auf damit!«
Er blieb stehen und wandte sich mir zu. »Entschuldige. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll...«
»Am besten genauso schonungslos, wie du mich mit deiner Anwesenheit konfrontiert hast.«
»Wenn Menschen krank sind und bald sterben müssen, spüre ich das.« Ich klappte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch er schnitt mir das Wort ab. »In all den Jahren hatte ich ausreichend Gelegenheit, diese Fähigkeit zu erproben. Viele Friedhofsbesucher sind alt, einige krank. Sobald ich ihre Krankheit fühlen kann, dauert es nicht mehr lange, bis die Beerdigung stattfindet.«
»Aber ... das bedeutet ...« Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was es bedeutete.
»Es bedeutet«, fuhr er fort, »dass Menschen, deren nahenden Tod ich nicht spüren kann, entweder einen Unfall haben oder ...«
... oder das Opfer eines anderen »unvorhergesehenen, von außen auf sie einwirkenden Ereignisses« werden, schoss mir die Definition von Unfall durch den Kopf. Mir fiel im Moment allerdings nur ein Ereignis ein, das noch auf diese Beschreibung passen wollte: Mord.
Das war vollkommen absurd! »Meine Tante wurde weder erschossen noch erschlagen, erstochen oder sonst was. Ihr Herz hat einfach aufgehört zu schlagen. Ganz plötzlich. Das hat auch der Arzt gesagt, der ihren Tod festgestellt hat. Also hör auf, mich auf irgendwelche abstrusen Ideen zu bringen, nur weil deine Geistersinne - oder wie auch immer man das nennt - nicht richtig funktionieren!«
Er seufzte und kehrte zu seinem - zu meinem - Sessel zurück. »Ich wollte dir keine Angst machen. Vielleicht hast du Recht und ich kann einen Herzinfarkt, der einfach so aus heiterem Himmel kommt, tatsächlich nicht spüren. Dafür müsste ich wohl genauer forschen, welche Arten von Krankheiten ich ... Vergiss es einfach. Es tut mir leid.«
Ich nickte nur. Mir stand nicht der Sinn danach, über Tante Fiona und seine fragwürdigen Fähigkeiten zu reden. Da fiel mir etwas anderes ein. »Du hast doch gesagt, dass ich dich nur wegen dieser Beschwörung sehen kann. Was war mit der ersten Nacht? Warum konnte ich dich da sehen?«
»Atem«, sagte er schlicht.
»Was?«
»Jetzt, da du mich beschworen hast, kannst du mich sehen - allerdings nur nach Einbruch der Dunkelheit.«
»Soll das heißen, bei Tag wirst du wieder unsichtbar?«, fiel ich ihm ins Wort.
Er nickte. »Ich kann dich sehen und hören, doch du wirst von meiner Nähe nicht mehr bemerken als die Kälte. Während der Nacht kannst du mich sehen, aber du kannst mich nicht berühren«, erklärte er mit einem Blick auf den Stuhl, den ich nach ihm geworfen hatte. »Umgekehrt kann auch ich nichts berühren. Wenn ich allerdings den Atem eines Lebenden in mich aufnehme, kann ich mich zu einem gewissen Grad materialisieren - auch ohne deine Beschwörung.«
»Das war es,
Weitere Kostenlose Bücher