01 - Der Geist, der mich liebte
beschloss, diese Nacht aufzubleiben. Nur um ganz sicherzugehen. Wenn nichts mehr geschah, konnte ich in der kommenden Nacht beruhigt schlafen. Heute jedoch würde ich es mir im Sessel bequem machen. Vielleicht lief ja etwas im Fernsehen.
Vorher wollte ich noch ins Bad, um mir die Zähne zu putzen. Ich hatte Angst davor, nach oben zu gehen. Trotzdem zwang ich mich Schritt für Schritt die Treppen hinauf. Halb erwartete ich, dass es wieder kalt werden würde, doch auch oben blieb die Temperatur normal. Vor der Badtür hielt ich inne. Es dauerte eine Weile, bis ich den Mut fand,
sie so weit zu öffnen, dass ich mit der Hand nach dem Lichtschalter tasten konnte. Erst nachdem das Licht an war, wagte ich es, die Tür ganz aufzustoßen. Sofort schoss mein Blick zum Spiegel, suchte nach der verräterischen Schrift. Doch da war nichts. Erleichtert atmete ich aus und trat endlich über die Schwelle. Während ich mir die Zähne putzte, wanderte mein Blick unentwegt im Raum hin und her, immer auf der Suche nach irgendetwas Verdächtigem. Allmählich begann ich Tess zu glauben, dass der Geist tatsächlich gebannt war.
Nachdem ich fertig war, ging ich in mein Schlafzimmer, um mir eine Decke zu holen. Ich stand schon mitten im Zimmer, als mich die Kälte packte. Dann sah ich ihn! Er saß im Sessel und blickte mir entgegen!
Für die Dauer einiger - sehr schneller - Herzschläge stand ich einfach nur da und starrte ihn an. War das der Landstreicher, vor dem Mr Perkins mich gewarnt hatte? Die Kälte sprach dagegen. Ich hatte mich erstaunlich gut unter Kontrolle - von meinen Beinen einmal abgesehen, die sich vehement weigerten, kehrtzumachen und mit mir zu flüchten. Dafür waren meine Knie zu weich. In den nächsten Sekunden würden meine Beine unter mir einknicken. Ich tastete nach der Lehne des Stuhls vor dem Sekretär und stützte mich daran ab. Natürlich ohne meinen Blick auch nur für den Bruchteil einer Sekunde von dem Mann im Sessel zu nehmen. Obwohl ich ihn nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit anstarrte, hätte ich noch immer nicht sagen können, wie er genau aussah. Meine Finger klammerten sich um die Stuhllehne, während ich krampfhaft versuchte, mir ein Bild von ihm zu machen. Allerdings sträubte sich mein Verstand hartnäckig dagegen, mehr aufzunehmen als die Tatsache, dass er dichtes schwarzes Haar und sehr helle Haut hatte. Dann stand er auf. Gott, war der groß! Als er näher kam, musste ich zu ihm aufsehen. Näher! Ich
drehte mich ruckartig um und wollte aus dem Raum stürzen. Dabei wäre ich um ein Haar gegen die Tür geknallt die hinter mir zugefallen war. Ich griff nach dem Türknauf und verfehlte ihn. In meinem Rücken kam der Geist näher. Ich konnte fühlen, wie die Kälte durchdringender wurde! Panisch fuhr ich herum, packte den Stuhl und schlug damit nach ihm. Er war so nah, dass mein Angriff ihn gar nicht verfehlen konnte, doch das Möbelstück sauste geradewegs durch ihn hindurch! Alles, was ich spürte, war ein kühler Hauch an meinen Fingerspitzen. Entsetzt ließ ich den Stuhl fallen. Obwohl ich ihn nicht wirklich getroffen hatte, wich der Geist einen Schritt zurück. In seinen Zügen lag weder Wut noch Furcht. Wovor sollte er sich auch fürchten ? Mein Angriff konnte ihm sichtlich nichts anhaben. Zumindest hatte ich mir ein wenig Raum verschafft. Genügend, um die Tür aufzureißen. Ich stolperte auf den Gang hinaus, die Treppen hinab und rannte Hals über Kopf davon. Hinter mir glaubte ich, eine Stimme zu hören. Falls da auch Worte waren, gingen sie in dem hoffnungslosen Durcheinander unter, das durch meinen Kopf tobte.
Als ich wieder einen halbwegs klaren Gedanken fassen konnte, stand ich barfuß auf dem Rasen vor dem Haus. Ich starrte auf die Tür und wartete darauf, dass der Geist mir folgen würde, doch das tat er nicht. Nachdem ein paar Minuten verstrichen waren, in denen er sich nicht zeigte, beruhigte sich mein Herzschlag ein wenig. Ich begann auf dem Rasen auf und ab zu laufen, während ich fieberhaft darüber nachdachte, was ich jetzt tun sollte. Tess anrufen!, schoss es mir durch den Kopf. Sowohl mein Handy als auch
das Telefon waren im Haus. Genau wie der Geist. Plötzlich wurde ich wütend. Ich kam aus der Großstadt! Dort fürchtete man sich vor Räubern, Vergewaltigern und Psychopathen! Vielleicht noch vor Straßengangs! Aber ganz bestimmt nicht vor Geistern!
Mein Angriff war einfach durch ihn hindurchgegangen, hatte ihn nicht einmal berühren können. Wenn ich ihn nicht
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