01 - Der Ring der Nibelungen
brauchte, seine Neugier und seine Kraft auf die Probe zu stellen. Doch es war zu erwarten, dass er an einem Hof in Feindeshand schnell in Schwierigkeiten geraten würde. Nein, vielleicht war Xanten Siegfrieds Schicksal, aber die Götter würden Regin nur mit Gewalt dazu bringen können, den Halbwüchsigen einem Rudel von Barbaren vorzuwerfen.
»Wir reisen nach Burgund«, knurrte er schließlich, den Blick seines Schützlings geflissentlich meidend.
Für einen Moment schien es, als verließe alles Ungestüm den Körper des jungen Siegfried. Er wurde bleich und stellte mit übergroßer Vorsicht die Schüssel auf den Tisch.
»Burgund?«, hakte er nach.
»Tu nicht so, als seist du mit tauben Ohren auf die Welt gekommen!«, bellte Regin.
»Du selbst hast doch immer gesagt, die Burgunder seien weibische Narren, die den neuen Göttern huldigten und an der Zitze Roms hingen«, hielt Siegfried entgegen.
Kaum etwas hielt Regin für so wahr wie diese Worte. Gundomar von Burgund war ein Vasallenkönig, der seine Krone der Gnade des römischen Kaisers verdankte. An seinem Hof hatte man die feinen Sitten Roms angenommen. Uberall trug man prächtige Kleider, und selbst die Männer schmückten sich mit Gold und Juwelen. Gewürze aus dem Orient bröselten sie in die Speisen, mit Düften benetzten sich ihre Frauen. Selbst einfache Untertanen durften lesen und schreiben erlernen. Doch nicht etwa die eigene Sprache - nein, es war Latein!
Was Regin aber am meisten zuwider war - in den Tavernen von Rom bis nach Dänemark munkelte man, dass Gundomar mit dem Gott der Christen liebäugelte und in Worms sogar eine Kirche hatte bauen lassen!
»Burgund ist kein Hof für Krieger«, erklärte Siegfried mürrisch, sein weniges Wissen in die Waagschale werfend. Und vor allem lag Burgund im Süden - weit weg von Brunhilde.
»Dann ist er genau der Ort für dich«, erklärte Regin fest.
Er legte seinem Ziehsohn versöhnlich die Hand auf die Schulter. »Siegfried, ich weiß, wie sehr dein Herz nach Abenteuern dürstet. Wenn du bereit bist, werden sie dich finden.«
Die Antwort war dem Jungen nicht genug. Aber er wusste, dass Regin nicht mit sich reden ließ.
»Man erzählt sich seltsame Dinge von Burgund«, sagte er stattdessen.
Regin, der eine weitere Ausrede erwartete, tat gelangweilt. »Man erzählt sich auch seltsame Dinge von uns, da bin ich sicher.«
Siegfried stellte seine Schale weg. »Nein, das meine ich nicht. Man sagt, die Burgunder hätten ihre Grenzen geschlossen und den Handel fast vollständig eingestellt. Es geschähen wunderliche Dinge in den Wäldern um Worms.«
Regin spuckte auf den Boden. »Das kommt davon, wenn man sich mit dem Christengott einlässt.«
Siegfried beugte sich über den Tisch, als habe er Angst, seine Worte könnten von fremden Ohren belauscht werden. »Benno sagt, ein Söldner hat ihm von Ungeheuern erzählt, die Worms belagern.«
»Glaubst du daran?«, fragte Regin scharf. Er hoffte, Siegfried vernünftiger erzogen zu haben.
»Nein, natürlich nicht«, prahlte der Junge und lehnte sich betont lässig zurück. »Es gibt doch keine Ungeheuer.«
Die Überheblichkeit hielt nur drei Herzschläge lang. »Es sei denn, eine Bestie aus Utgard ist entkommen? Oder mehrere? Vielleicht eine Prüfung Odins!«
Regin war klar, dass es nicht darum ging, ob irgendein Gewürm vor den Toren von Worms Jungfrauen fraß. Es ging um die Möglichkeit, um die Chance, dass endlich ein Abenteuer ins Haus stand.
Er entschied sich, Siegfried seine Träumereien zu lassen. Sie würden ihn schnelleren Schrittes nach Burgund treiben als die Aussicht auf Gewinn durch den Verkauf der geschmiedeten Werkzeuge. »Nun, wenn dem so ist, brauchst du dich nicht über den Mangel an Abenteuern zu beklagen.«
Siegfried lächelte triumphierend. »Aber dann brauche ich ein Schwert!«
»Sollte das der Fall sein, wird dir der Hofschmied von Burgund sicherlich zur Seite stehen.«
Damit war die Debatte beendet.
Isenstein war eine Felsenburg, wie es auf der Welt keine zweite gab. An der Südspitze Islands in einem Fjord gelegen, dessen Zugang zum peitschenden Meer kaum eine Schiffsbreite überschritt, thronte sie fast auf mittlerer Höhe zwischen dem steinigen Strand und dem Kraterrand eines Vulkans, der an Tagen schlechten Wetters in grauschwarze Wolken gehüllt war.
Die Vorfahren Hakans hatten ein Plateau direkt in das Vulkangestein gehauen, aus dem die Insel geschaffen war. Dann hatten sie den abgetragenen Stein in Quader gemeißelt
Weitere Kostenlose Bücher