01 - Gnadenlos
geparkten Wagen erst vorgenommen hatten, als das Auto von der prallen Augustsonne schon so aufgeheizt war, daß nur noch ein paar von der Hitze aufgeweichte Schmierflecken übriggeblieben waren. So wußten sie nicht einmal, ob sie mit den Fingerabdrücken des eingetragenen Wagenbesitzers, eines gewissen William Peter Grayson, übereinstimmten. Manche Leute interessierte es offenbar nicht weiter, daß das Identifizieren von Teilabdrücken mit weniger als zehn möglichen Vergleichspunkten doch recht mühsam war - im besten Falle.
In der neuen zentralen Computerdatei des FBI war über Grayson oder Farmer nichts zu finden. Schließlich hatte auch Mark Charons Rauschgiftdezernat keine Unterlagen zu den genannten Namen. Damit waren sie nicht gleich wieder ganz am Anfang des Spielfelds angelangt. Aber sie standen irgendwo ratlos in der Mitte und mußten andere für sich setzen lassen. Aber das war bei Mordermittlungen ja ständig so. Polizeiarbeit bestand aus einer Mischung von Alltäglichem und Außergewöhnlichem, wobei das erstere allerdings weit überwog. Die Spurensicherung konnte einem viel weiterhelfen. Sie hatten zum Beispiel den Sohlenabdruck einer gängigen Turnschuhmarke gesichert. Offensichtlich fabrikneu - das war eine Hilfe. Sie kannten die ungefähre Schrittweite des Mörders, aus der sie auf eine Körpergröße zwischen 1,70 und 2,00 Metern schlossen, was dummerweise mehr war als Virginia Charles' Schätzung - aber das ließen sie unberücksichtigt. Sie wußten, der Täter war ein Weißer. Sie wußten, daß er stark sein mußte. Sie wußten, daß er entweder sehr, sehr viel Glück gehabt hatte oder mit allen möglichen Waffen vortrefflich umgehen konnte. Sie vermuteten außerdem, daß er wahrscheinlich zumindest rudimentäre Kenntnisse im Nahkampf besaß oder - seufzte Ryan vor sich hin - auch da Glück gehabt hatte; schließlich hatte es nur ein solches Zusammentreffen gegeben, und noch dazu mit einem Süchtigen, der Heroin im Blut gehabt hatte. Daß er sich als Penner verkleidete, galt immerhin als gesichert.
Alles zusammen ergab trotzdem noch nichts Nennenswertes. Mehr als die Hälfte aller Männer fiel in den Bereich der geschätzten Körpergröße. Erheblich mehr als fünfzig Prozent der Männer im Raum Baltimore waren Weiße. Es gab Millionen von Kriegsveteranen in Amerika, darunter viele aus Eliteeinheiten - und Nahkampferprobung hatte nicht nur jeder Kriegsveteran, sondern jeder anständige Soldat, und in diesem Land herrschte schon seit mehr als dreißig Jahren Wehrpflicht, sagte sich Ryan. In einem Umkreis von dreißig Kilometern gebe es wahrscheinlich an die 30 000 Männer, die auf die Beschreibung paßten und die diversen Fähigkeiten des unbekannten Verdächtigen besaßen. War er vielleicht selber im Drogengeschäft? War er ein Straßenräuber? War er, wie Farber vermutet hatte, auf irgendeinem persönlichen Feldzug? Ryan neigte mehr zu dieser letzten Annahme, aber er konnte es sich nicht leisten, die anderen beiden außer acht zu lassen. Psychiater und Kripobeamte hatten sich schon öfter geirrt. Die elegantesten Theorien konnten durch eine einzige störende Tatsache ins Wanken gebracht werden. Verdammt. Nein, sagte er sich, der hier war genau das, wofür Farber ihn hielt. Er war kein Krimineller; er war ein Killer, und das war etwas völlig anderes.
»Wir brauchen bloß das eine Steinchen«, sagte Douglas leise. Er kannte diesen Ausdruck im Gesicht seines Kollegen.
»Das eine Steinchen«, wiederholte Ryan. Es war ein privates Kürzel. Das eine Steinchen, durch das sich ein Fall aufklären ließ, konnte ein Name, eine Adresse, die Beschreibung oder das Kennzeichen eines Autos oder auch eine Person sein, die etwas wußte. Es gab für den Ermittlungsbeamten, wenn auch stets in anderer Form, immer das entscheidende Teil im Puzzle, das das Bild hervortreten ließ, das gleichzeitig für den mutmaßlichen Täter der Backstein war, der alles zum Einsturz brachte, sobald er aus der Wand genommen wurde. Irgendwo da draußen existierte dieses eine Steinchen, da war sich Ryan ganz sicher. Es mußte einfach vorhanden sein, denn dieser Killer war schlau, schlauer, als gut für ihn war. Ein Verdächtiger, der einen einzelnen Menschen ausschaltete, konnte auf immer unentdeckt bleiben, aber dieser Kerl gab sich ja nicht damit zufrieden, nur eine Person umzubringen, oder? Seine Motive waren nicht Leidenschaft oder Gewinnsucht, er hatte sich auf ein Programm festgelegt, bei dem jeder einzelne Schritt
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