01 - Gnadenlos
Boote. Ob nun Munition für die Flakstellungen von einem Ufer zum anderen transportiert wurde oder ein vietnamesischer Teenager seine Freundin besuchte, es befanden sich jedenfalls Boote hier. Ein Zusammenstoß mit einem davon konnte auf verschiedene Weise tödlich ausgehen, unterscheiden würden sich die diversen Möglichkeiten dabei nur in der Dauer, nicht im Endergebnis. Widrigerweise betrug die Sicht praktisch Null und so mußte Kelly sich darauf einstellen, daß ihm nicht mehr als zwei oder drei Sekunden zum Ausweichen blieben. Er hielt sich, so gut er konnte, in der Mitte des Flußlaufs. Alle Dreißig Minuten drosselte er die Geschwindigkeit und reckte den Kopf aus dem Wasser, um seine Position zu bestimmen. Er konnte überhaupt keine Lebenszeichen sehen. In diesem Land gab es kaum mehr Elektrizitätswerke, und ohne Licht zum Lesen oder Strom zum Radiohören führte die einfache Bevölkerung ein primitives und in den Augen ihrer Feinde unzivilisiertes Leben. Es war alles irgendwie traurig. Kelly war nicht der Meinung, daß das vietnamesische Volk vom Wesen her kriegerischer war als irgendein anderes, aber hier herrschte nun mal Krieg, und die Leute, die er gesehen hatte, benahmen sich beinahe exemplarisch. Er bestimmte seine Position, tauchte wieder ab und achtete dabei darauf, daß er nicht tiefer als drei Meter ging. Er hatte von einem Fall gehört, wo ein Taucher gestorben war, weil er nach wenigen Stunden Aufenthalt in nur fünf Metern Tiefe zu rasch aufgestiegen war, und er hatte keine Lust, das gleiche zu erleben.
Die Zeit kroch dahin. Immer wieder einmal rissen die Wolken auf, und das Licht der Mondsichel ließ die in den Fluß fallenden Regentropfen sichtbar werden, zarte schwarze Kreise, die sich auf der geisterhaft blauen Fläche drei Meter über seinem Kopf ausbreiteten und auflösten. Dann verdichteten sich die Wolken wieder, und er konnte nur noch ein dunkles, graues Dach sehen. Der Klang der fallenden Tropfen dort oben wetteiferte wahrscheinlich mit dem infernalischen Surren der Propeller. Halluzinationen waren auch eine Gefahr. Kelly hatte einen wachen Verstand und befand sich zur Zeit in einer Umgebung, in der es keine Außenreize gab. Erschwerend kam noch hinzu, daß sein Körper langsam eingelullt wurde. Kelly war in einem fast gewichtslosen Zustand, etwa so, wie es im Mutterleib sein mußte, und die schiere Behaglichkeit dieser Empfindung barg Gefahren. Sein Verstand könnte mit Träumereien darauf reagieren, und das durfte er nicht zulassen. Kelly entwickelte einen bestimmten Ablauf, ließ den Blick über die primitiven Instrumente schweifen, erdachte sich kleine Spiele, wie etwa, sein Gefährt ohne Rückgriff auf die Tiefenanzeige exakt gerade zu halten - doch das stellte sich als undurchführbar heraus. Höhenangst, von der Piloten oft sprachen, konnte einen hier schneller packen als in der Luft, und Kelly stellte fest, daß er sich nie länger als fünfzehn oder zwanzig Sekunden beherrschen konnte, bevor er wieder tiefer zu gehen begann. Immer wieder einmal vollführte er eine komplette Unterwasserrolle, bloß zur Abwechslung, doch hauptsächlich ließ er in endloser Folge den Blick vom Wasser zu den Instrumenten und zurück schweifen, bis auch das gefährlich monoton wurde. Schon nach zwei Stunden Fahrtdauer mußte Kelly sich gewaltsam einschärfen, daß er sich unbedingt konzentrieren mußte, aber er konnte sich nicht auf nur ein oder auch zwei Dinge konzentrieren. Hier hatte er es zwar sehr behaglich, aber jedes menschliche Wesen im Umkreis von zehn Kilometern würde sich wahrscheinlich nichts sehnlicher wünschen, als seinem Leben ein Ende zu setzen. Diese Leute lebten hier, kannten das Land und den Fluß, die Geräusche und Anblicke. Und sie lebten im Kriegszustand, wo alles Ungewöhnliche Gefahr bedeutete, auf den Feind hinwies. Kelly wußte nicht, ob die Regierung Prämien für tote oder lebende Amerikaner zahlte, aber irgend etwas in der Art mußte hier gelten. Für eine Belohnung arbeiteten die Leute härter, besonders für eine, die den Patriotismus förderte. Kelly fragte sich, wie das alles zustande gekommen war. Nicht, daß das von Belang gewesen wäre. Diese Leute waren Feinde. Das würde sich so schnell nicht ändern. Sicherlich nicht in den nächsten drei Tagen, und weiter reichte für Kelly die Zukunft nicht. Wenn danach noch etwas kommen sollte, mußte er so tun, als gäbe es das nicht.
Sein nächster vorgesehener Halt war bei einer hufeisenförmigen Biegung. Kelly
Weitere Kostenlose Bücher