Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
01 - Gnadenlos

01 - Gnadenlos

Titel: 01 - Gnadenlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Clancy
Vom Netzwerk:
verlangsamte den Schlitten und hob vorsichtig den Kopf. Vom Nordufer drangen Geräusche über das Wasser her, aus vielleicht dreihundert Meter Entfernung. Männliche Stimmen redeten in der Sprache, deren Tonfall ihm immer etwas poetisch geklungen hatte - aber rasch häßlich wurde, wenn Wut ins Spiel kam. Er lauschte etwa zehn Sekunden. Dann zog er den Schlitten wieder nach unten und beobachtete, wie sich der Kurs auf dem Kompaß änderte, während er der Flugschleife folgte. Wie merkwürdig vertraulich das gewesen war, wenn auch nur für ein paar Sekunden. Worüber hatten sie gesprochen? Politik? Ein langweiliges Thema in einem kommunistischen Land. Feldarbeit vielleicht? Oder hatten sie über den Krieg geredet? Wahrscheinlich, denn die Stimmen waren leise gewesen. Die USA brachten genügend junge Männer dieses Landes um, daß sie Grund genug hatten zum Haß, dachte Kelly, und der Verlust eines Sohnes konnte hier kaum weniger schmerzlich sein als daheim. Sie mochten einander vielleicht stolz von dem Jungen berichten, der zu den Soldaten gegangen war aber dann in Napalm geröstet, von einem MG verstümmelt oder durch eine Bombe pulverisiert wurde; die Geschichten mußten sich auf die eine oder andere Art auswirken, selbst wenn sie gelogen waren, darauf kam es gar nicht an, doch in jedem Fall war er früher mal ein Kind gewesen, das den ersten Schritt getan und in seiner Muttersprache »Papa« gesagt hatte. Also einige dieser Kinder waren groß geworden und hatten sich PLASTIC FLOWER angeschlossen, und Kelly bereute es im mindesten nicht, sie umgebracht zu haben. Das von ihm belauschte Gespräch hatte einigermaßen menschlich geklungen, auch wenn er nichts verstanden hatte, und so stellte sich die beiläufige Frage: Was machte sie anders?
    Sie sind anders, Blödmann! Sollen sich die Politiker den Kopf zerbrechen, warum das so ist. Solche Fragen lenkten ihn von der Tatsache ab, daß sich weiter oben am Fluß zwanzig Landsleute von ihm befanden. Er fluchte still vor sich hin und konzentrierte sich wieder auf das Steuern seines Schlittens.
    Pastor Charles Meyer ließ sich in der Vorbereitung seiner wöchentlichen Predigten so gut wie nie stören. Denn das war wohl das Wichtigste an seinem Amt, der Gemeinde in klaren, knappen Worten das zu sagen, was ihnen mitgeteilt werden mußte, weil seine Schäfchen ihn nur einmal in der Woche sahen, es sei denn, etwas ging schief - und wenn etwas ganz danebenging, dann brauchten sie das bereits gelegte Glaubensfundament wenn sein Zuspruch und sein Rat wirklich wirken sollten. Meyer war schon seit dreißig Jahren Pfarrer, sein gesamtes Erwachsenenleben lang, und die natürliche Beredsamkeit, die zu seinen wirklich großen Gaben gehörte, war durch jahrelange Übung so geschliffen worden, daß er eine beliebige Stelle aus der Heiligen Schrift hernehmen und daraus eine feine, auf den Punkt gebrachte Moralpredigt machen konnte. Reverend Meyer war kein strenger Mann. Seine Glaubensbotschaft verkündete Gnade und Liebe. Ein Lächeln und ein Scherz fielen ihm leicht, obwohl seine Predigten notwendigerweise eine ernste Angelegenheit waren, denn das Heil war das ernsteste Ziel der Menschheit. Er sah seine Aufgabe darin, Gottes wahres Wesen kenntlich zu machen. Liebe. Gnade. Barmherzigkeit. Erlösung. Sein ganzes Leben, dachte Meyer, zielte darauf ab, den Menschen zu helfen, nach einer Zeit der Achtlosigkeit gegenüber dem Wort wieder auf den rechten Weg zu finden, Menschen trotz aller Ablehnung mit offenen Armen zu empfangen. Für eine so wichtige Aufgabe ließ er sich schon einmal stören.
    »Willkommen daheim, Doris«, verkündete Meyer schon beim Betreten von Ray Browns Haus. Er war nur mittelgroß, aber sein gewaltiger grauer Haarschopf verlieh ihm etwas recht Stattliches und Gebildetes. Er ergriff ihre beiden Hände und lächelte gütig: »Unsere Gebete sind erhört worden.«
    Dieser Besuch würde trotz seines freundlichen und hilfreichen Auftretens für alle drei Beteiligten nicht gerade erfreulich werden. Doris war vom rechten Weg abgekommen, wahrscheinlich sehr weit, dachte er. Eingedenk dessen versuchte Meyer, keinen zu strafenden Ton anzuschlagen. Entscheidend war doch, daß die verlorene Tochter zurückgekehrt war, und wenn Jesus seine Zeit auf Erden aus einem bestimmten Grund zugebracht hatte, so sagte diese Parabel alles in nur wenigen Versen aus. Das Christentum in einer einzigen Geschichte. Egal, wie schwer jemand sich versündigt hatte, es würden alle, die den Mut zur Umkehr

Weitere Kostenlose Bücher