01 - Gnadenlos
Uhrzeit war seine Leistungsfähigkeit auf dem Tiefpunkt.
Nichts.
Kelly ging weiter, den Hügel hinunter. In der Senke plätscherte ein kleiner Bach, der in den Fluß mündete. Die »Schlange« nahm die Gelegenheit wahr, eine der Feldflaschen aufzufüllen, und warf eine Reinigungstablette hinein. Wieder lauschte Kelly, da Geräusche in Tälern und über Bächen sich sehr gut ausbreiteten. Immer noch nichts. Er blickte zu »seinem« Hügel hoch, eine graue Masse unter dem wolkenverhangenen Himmel. Der Regen wurde stärker, als Kelly seinen Aufstieg begann. Hier waren weniger Bäume gefällt worden, was verständlich war, da die Straße nun weiter weg lag. Das Gelände war etwas zu steil für Ackerbau, und da es ganz in der Nähe so gutes Talland gab, war er sich ziemlich sicher, daß er hier wohl kaum auf Menschen treffen würde. Wahrscheinlich war SENDER GREEN deswegen hier eingerichtet worden, sagte er sich. In der Umgebung gab es nichts Auffallendes. Das würde sich in zweierlei Hinsicht auswirken.
Auf halbem Weg eröffnete sich ihm der erste Blick auf das Gefangenenlager. Es war eine freie Fläche mitten im Wald. Er wußte nicht, ob das Gelände vorher eine Wiese gewesen war oder ob die Bäume aus dem einen oder anderen Grund gefällt worden waren. Ein Ausläufer der Flußstraße führte von der anderen Seite »seines« Hügels direkt hierher. Kelly sah ein Licht von einem der Wachtürme aufblitzen - zweifellos jemand mit einer Zigarette. Lernten die Leute denn gar nichts? Es konnte Stunden dauern, um eine wirklich gute Nachtsicht zu erhalten, und das bißchen Licht konnte alles wieder verderben. Kelly sah weg, konzentrierte sich auf den restlichen Aufstieg, umging Büsche, suchte sich offene Flächen, wo seine Uniform nicht an Zweige und Blätter streifte und ein todbringendes Geräusch auslösen würde. Er war beinahe überrascht, als er die Spitze erreichte.
Einen Augenblick setzte er sich hin, blieb völlig still und spähte und lauschte noch etwas, bevor er das Lager in Augenschein nahm. Er fand einen sehr guten Fleck, vielleicht zehn Meter unter der Kuppe. Die gegenüberliegende Seite des Hügels war steil, und jemand, der zufällig hier hochstieg, würde Lärm machen. An dieser Stelle würde er sich für einen Beobachter weiter unten nicht abzeichnen. Sein Plätzchen war gut im Gebüsch verborgen und verwischte seine Umrisse. Das war sein Platz auf seinem Hügel. Er griff in seine Jacke und zog eines seiner Funkgeräte heraus.
»SCHLANGE ruft GRILLE, over.«
»SCHLANGE, hier GRILLE, empfangen Sie mit Signalstärke und -güte fünf«, erwiderte einer der Funker in der Femmeldekabine auf dem Deck der Ogden.
»An Ort und Stelle, kundschafte aus. Over.«
»Verstanden. Out.« Er blickte zu Admiral Maxwell hoch. Damit war Phase zwei von BOXWOOD GREEN abgeschlossen.
Phase drei begann sofort. Kelly holte das 7 x 50-Marinefernrohr aus der Hülle und beobachtete eingehend das Lager. In allen vier Türmen befanden sich Wächter, zwei von ihnen rauchten. Das mußte bedeuten, daß ihr Offizier schlief. Die NVA hielt auf eiserne Disziplin und bestrafte Vergehen drastisch - der Tod war kein ungewöhnlicher Preis selbst für eine geringere Übertretung. Unten stand ein einziges Fahrzeug, erwartungsgemäß bei dem Gebäude geparkt, in dem die Offiziere auf diesem Gelände untergebracht sein mußten. Nirgendwo war ein Licht, auch kein Geräusch. Kelly rieb sich das Regenwasser aus den Augen und überprüfte die Scharfeinstellung an beiden Okularen, bevor er seine Inspektion begann. Merkwürdigerweise war es ihm, als befände er sich wieder in der Marinebasis Quantico. Es war unheimlich, wie sich alles im gleichen Winkel und der gleichen Perspektive darbot. Nur in den Gebäuden schienen einige kleinere Unterschiede zu bestehen, aber das konnte von der Dunkelheit oder einem etwas abweichenden Farbanstrich herrühren. Ach nein, erkannte er. Es lag am Hof, am Exerzierplatz - wie immer er ihn auch bezeichnen sollte. Dort wuchs kein Gras. Die Oberfläche war eben und kahl, lediglich der hier übliche rote Lehm. Die andere Farbe und der fehlende Bewuchs ließen die Gebäude gleich anders wirken. Auch die Dächer waren anders gedeckt, hatten aber die gleiche Schräge. Es war tatsächlich wie in Quantico, und wenn alles gutging, würde das Gefecht so erfolgreich verlaufen wie die Übungsdurchgänge. Kelly machte es sich einigermaßen bequem und genehmigte sich einen Schluck Wasser, das so destilliert geschmacklos war wie das
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