01 - Gnadenlos
stellte ihm keine Fragen. Er wollte nur wissen, wo er hinfahren sollte. Trotzdem mußte er sich wundern, wer dieser mit einem Sonderflug eingetroffene Mann wohl war. Wahrscheinlich, überlegte Kelly, als das Auto von der Hauptstraße abbog, bekam er viele solcher Aufträge, jedenfalls genug, als daß er sich über Dinge, die er ohnehin nie erfahren würde, schon lange keine Gedanken mehr machte.
»Vielen Dank fürs Mitnehmen«, sagte Kelly.
»Gern geschehen, Sir.« Der Wagen brauste davon, und Kelly ging zu seiner Wohnung. Er fand es lustig, daß er seine Schlüssel auf dem ganzen Weg nach Vietnam und wieder zurück dabeigehabt hatte. Wußten die Schlüssel, wie weit sie gereist waren? Fünf Minuten später stand er unter der Dusche - eine der Grundkonstanten des amerikanischen Lebens - und wechselte von einer Realität in die andere. Nach weiteren fünf Minuten harte er eine leichte Hose und ein kurzärmliges Hemd angezogen und marschierte aus der Tür zu seinem Scout, der einen Block entfernt geparkt war. Zehn Minuten später stellte er den Wagen in einer Parklücke in Sichtweite von Sandys Bungalow ab. Der Weg vom Scout zu ihrer Haustür war ein weiterer Übergang. Ich bin zu jemandem nach Hause gekommen, sagte sich Kelly. Zum erstenmal.
»John!« Er hatte nicht erwartet, daß sie ihn umarmen würde, und erst recht nicht, daß sie Tränen in den Augen hätte.
»Schon gut, Sandy. Mir geht's prima. Keine Löcher, Schrammen oder sonstwas.« Erst allmählich spürte er, wie verzweifelt sie sich an ihn klammerte. Zunächst fand er es ja nur angenehm. Doch dann fing sie an seiner Brust zu schluchzen an, und da wußte er, daß es nicht um ihn ging. »Was ist los?«
»Sie haben Doris umgebracht.«
Wieder einmal blieb die Zeit stehen. Sie schien in viele Scherben zu zersplittern. Schmerzerfüllt schloß Kelly die Augen. Er befand sich plötzlich wieder auf seinem Hügel mit Blick auf SENDER GREEN und sah die NVA-Soldaten eintreffen, lag wieder in seinem Krankenhausbett und blickte auf ein Foto, stand vor einem namenlosen Dorf und lauschte auf das Schreien von Kindern. Er war zwar heimgekommen, aber da wartete nur wieder alles, was er verlassen hatte. Nein, erkannte er, er hatte es gar nicht verlassen, es folgte ihm auf Schritt und Tritt. Er würde dem nie entkommen, weil er nie etwas zu einem Ende gebracht hatte. Kein einziges Mal.
Aber diesmal hatte die Sache eine bisher unbekannte Komponente: Diese Frau hielt ihn umfangen und verspürte den gleichen brennenden Schmerz, der auch ihm bis ins Herz drang.
»Sandy, was ist passiert?«
»John, sie war wieder völlig gesund. Wir haben sie heimgebracht, und dann habe ich heute angerufen, wie du gesagt hast, und ein Polizist hat abgehoben. Doris und ihr Vater sind ermordet worden.«
»Okay.« Er schob sie zum Sofa. Er wollte sie erst zur Ruhe kommen lassen, sie nicht zu fest halten, aber das gelang nicht. Sie klammerte sich weiter an ihn, ließ all den Gefühlen freien Lauf, die sie zusammen mit der Sorge um sein Wohlergehen verdrängt hatte. Mehrere Minuten lang lag Sandys Kopf an seiner Schulter. »Was ist mit Sam und Sarah?«
»Ich habe es ihnen noch nicht gesagt.« Sie hob das Gesicht und sah sich mit verschleiertem Blick im Zimmer um. Dann setzte sich die Krankenschwester in ihr wieder durch, wie nicht anders zu erwarten gewesen war. »Wie geht es dir?«
»Ein bißchen kaputt von der weiten Reise«, sagte er, nur um auf ihre Frage etwas zu entgegnen. Dann mußte er ihr die Wahrheit sagen. »Es war ein Schlag ins Wasser. Die Mission hat nicht geklappt. Die sind immer noch dort.«
»Ich verstehe nicht.«
»Wir haben versucht, ein paar Leute aus Nordvietnam herauszuholen, Gefangene - aber irgendwas ist schiefgegangen. Wieder ein Fehlschlag«, fügte er leise hinzu.
»Ist es gefährlich gewesen?«
Kelly gab ein Brummen von sich. »Ja, Sandy, das kann man sagen, aber ich bin mit heiler Haut davongekommen.«
Sandy überging das. »Doris hat gesagt, da wären noch andere Mädchen in deren Gewalt.«
»Ja, Billy hat das gleiche gesagt. Ich werde versuchen, sie herauszuholen.« Kelly merkte, daß sie auf die Erwähnung von Billys Namen nicht reagierte.
»Das bringt doch nichts - sie rauszuholen, außer... «
»Ich weiß.« Das, was mich die ganze Zeit verfolgt, dachte Kelly. Es gab nur einen Weg, dies alles abzustellen. Davonlaufen konnte er nicht. Er mußte sich der Sache stellen.
»Der kleine Auftrag ist also heute früh erledigt worden, Henry«, verkündete
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