01 - Gott schütze dieses Haus
noch wußte. Seine Kenntnisse waren begrenzt. Sein Interesse am elisabethanischen Zeitalter war historischer, nicht literaturwissenschaftlicher Art gewesen, und mehr als einmal hatte er an diesem Abend den Weg verflucht, den er damals in Oxford eingeschlagen hatte; hatte sich Fachwissen auf einem Gebiet gewünscht, das ihm damals kaum relevant erschienen war.
Doch er hatte es schließlich gefunden, und jetzt las er die Zeilen immer wieder, in dem Bemühen, dem Vers aus dem siebzehnten Jahrhundert eine dem zwanzigsten Jahrhundert gemäße Bedeutung zu geben.
›Denn eine Sünde weckt die andre auch, Mord ist Nachbar der Lust, wie Flamm und Rauch.‹
Er gibt Leben und Tod Bedeutung, hatte der kleine Priester gesagt. Was also hatten die Worte des Prinzen von Tyrus mit einem verlassenen Grab in Keldale zu tun? Und was hatte das Grab mit dem Tod eines Bauern zu tun?
Absolut gar nichts, sagte sein Verstand. Absolut alles, widersprach sein Instinkt.
Er klappte das Buch zu. Den Schlüssel hatte Gillian: zur Bedeutung und zur Wahrheit. Er griff zum Telefon und wählte.
Es war nach zehn, als sie die schlecht beleuchtete Straße in Ealing hinunterging. Webberly war überrascht gewesen, sie zu sehen, aber die Überraschung war verflogen, als er den Brief geöffnet hatte, den Lynley ihr für ihn mitgegeben hatte. Er warf nur einen Blick auf die kurze Nachricht, drehte das Bild um und hängte sich ans Telefon. Nachdem er Edwards in kurzem Kommandoton befohlen hatte, augenblicklich zu kommen, hatte er sie weggeschickt, ohne danach zu fragen, wieso sie plötzlich ohne Lynley in London erschienen war. Es war, als existierte sie gar nicht für ihn. Und so war es ja auch. Sie existierte nicht für ihn. Nicht mehr.
Na und? dachte sie. Wen interessiert schon, was passiert? Es war von Anfang an unvermeidlich. Du blödes, fettes kleines Schwein, du hast dir eingebildet, du wärst die große Detektivin. Dachtest, du wüßtest über Gillian Teys Bescheid, was? Hast sie im Nebenzimmer summen hören, und nicht mal da hattest du genug Grips, um es zu kapieren.
Sie musterte das Haus. Die Fenster waren dunkel. Von nebenan dröhnte Mrs. Gustafsons Fernsehapparat, aber aus dem Haus, vor dem sie stand, kam keinerlei Anzeichen von Leben. Nichts.
Nichts. Ja, dachte sie, das ist es. Da drinnen ist nichts, absolut gar nichts, und schon gar nicht das, was du dir wünschst. Die vielen Jahre, und du hast ein Hirngespinst ausgebrütet, Barb. Und alles umsonst, die reine Verschwendung.
Sie wehrte den Gedanken ab, weigerte sich, ihn zu akzeptieren, und sperrte die Tür auf. Der Geruch des stillen Hauses fiel über sie her; ein Geruch nach ungewaschenen Körpern, nach eingesperrten Küchendünsten, nach muffiger Luft, nach bedrückender Hoffnungslosigkeit. Er war widerlich und krank, doch in diesem Moment hieß sie ihn willkommen. Sie atmete ihn tief ein, fand ihn angemessen und gerecht.
Sie schloß die Tür hinter sich und lehnte sich an sie, während ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Hier ist es, Barb. Hier hat alles angefangen. Laß dich davon wieder zum Leben erwecken.
Sie stellte ihre Handtasche auf den wackligen Tisch neben der Tür und zwang sich, zur Treppe zu gehen. Als sie sie erreichte, fing ihr Auge einen Lichtblitz aus dem Wohnzimmer ein. Neugierig ging sie zur Tür und fand das Zimmer leer vor. Das Licht war nur der Schein eines vorbeihuschenden Autoscheinwerfers gewesen, der sich flüchtig im Glas des Bildes gespiegelt hatte. Seines Bildes. Tonys Bild.
Es zog sie ins Zimmer, und sie setzte sich in den Sessel ihres Vaters, der, neben dem ihrer Mutter, dem Schrein gegenüberstand. Tonys Gesicht lächelte sie spitzbübisch an, sein drahtiger Körper strotzte von Leben.
Sie war erschöpft, ausgelaugt, aber sie zwang sich, den Blick auf das Bild gerichtet zu halten und bis in die Tiefen der Erinnerung zu tauchen, in denen Tony immer noch schwach und grau in einem schmalen weißen Krankenhausbett lag. Sein Bild war auf ewig in ihr Gedächtnis eingebrannt, so, wie sie es damals gesehen hatte: Schläuche und Nadeln überall, zuckende Finger, die an der Bettdecke zupften. Der dünne Hals konnte den Kopf nicht länger tragen, der zu Übergröße angewachsen schien. Seine Lider waren schwer, verkrustet, geschlossen. Seine aufgesprungenen Lippen bluteten.
»Koma«, hatten sie gesagt. »Es wird bald soweit sein.«
Aber das stimmte nicht. Es war noch nicht soweit gewesen. Erst hatte er noch einmal die Augen geöffnet, und ein
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