01 - Gott schütze dieses Haus
entflohen.«
»Nein!« Er fuhr fort, ihre Wunden zu reinigen.
»Ich liebe dich, Jonah.«
Das ließ ihn innehalten. Er schlug die Hände vor sein Gesicht.
»Wie soll ich dich nennen?« flüsterte er. »Ich weiß nicht einmal, wer du bist.«
»Jo, Jonah, mein Liebster ...«
Ihre Stimme war wie eine Folter für ihn, die er kaum ertragen konnte, und als sie die Arme nach ihm ausstreckte, stürzte er aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Er stolperte zu einem Sessel, hörte sein Keuchen, spürte die Panik, die ihm den Verstand zu rauben drohte. Er ließ sich in den Sessel fallen und starrte, ohne etwas zu sehen, die Gegenstände an, die ihr gemeinsames Heim ausmachten, stieß verzweifelt den Gedanken weg, der im Zentrum seiner Angst saß.
Vor drei Wochen, hatte die Polizeibeamtin gesagt. Er hatte sie belogen, eine Augenblicksreaktion, die dem Entsetzen über ihre unverständliche Behauptung entsprungen war. Er war zu jener Zeit nicht mit Nell in London gewesen, sondern auf einer viertägigen Konferenz in Exeter. Nell hatte ihn eigentlich begleiten wollen, doch im letzten Moment war sie wegen einer Grippe zu Hause geblieben. Angeblich. War sie wirklich krank gewesen? Oder hatte sie hier die Gelegenheit gesehen, nach Yorkshire zu reisen?
»Nein!« Das Wort entfuhr ihm unwillkürlich. Er verachtete sich dafür, der Frage auch nur einen Moment lang Raum gegeben zu haben, zwang sich, ruhiger zu atmen, die Hände zu lockern, sich zu entspannen.
Er griff nach seiner Gitarre, nicht um zu spielen, sondern um sich ihrer Realität zu vergewissern, sich der Bedeutung zu erinnern, die sie in seinem Leben hatte. Er hatte im Halbdunkel auf der Hintertreppe von Testament House gesessen und ein Lied gespielt, das er besonders liebte, als sie ihn das erstemal angesprochen hatte.
»Das klingt so schön. Kann das jeder lernen?«
Sie kauerte sich neben ihn auf die Treppe, den Blick auf seine Finger gerichtet, die über die Saiten glitten, und sie hatte gelächelt wie ein Kind, das vor Freude lächelt.
Es war einfach gewesen, ihr das Spielen beizubringen. Sie war musikalisch, und was sie einmal gesehen oder gehört hatte, vergaß sie nie wieder. Jetzt spielte sie so oft für ihn wie er für sie, nicht mit seiner Sicherheit und seinem Feuer, sondern mit einer schwermütigen Süße, die ihm schon vor langer Zeit hätte verraten müssen, was er jetzt nicht wahrhaben wollte.
Abrupt stand er auf. Wie um sich zu vergewissern, schlug er ein Buch nach dem anderen auf und las in jedem Band ihren Namen, Nell Graham, klar und sauber geschrieben. Um zu zeigen, daß das Buch ihr gehörte, oder um sich selbst zu überzeugen?
»Nein!«
Er nahm das Fotoalbum vom untersten Bord und drückte es an die Brust. Es war ein Dokument ihres gemeinsamen Lebens, eine Bestätigung, daß Nell real war, daß sie kein anderes Leben hatte als das, das sie mit ihm teilte. Er brauchte das Album nicht aufzuschlagen, um zu wissen, was es enthielt: die Geschichte ihrer Liebe, Erinnerungen, die ein wichtiger Teil ihres gemeinsamen Lebens waren. In einem Park, auf einem Waldweg, in stiller Träumerei an einem frühen Morgen, voller Erheiterung über eine Gruppe zankender Vögel am Strand. All diese Bilder legten Zeugnis ab von Nells Leben und den Dingen, die sie liebte.
Sein Blick schweifte zu den Pflanzen am Fenster. Die Usambaraveilchen hatten ihn immer am meisten an sie erinnert. Die schönen Blüten saßen anmutig und zierlich auf ihren Stengeln. Die dicken grünen Blätter schützten und umgaben sie. Man hätte nicht meinen sollen, daß diese Pflanzen das Londoner Wetter aushallen konnten, doch so zart und zerbrechlich sie wirken mochten, sie besaßen eine bemerkenswerte Kraft.
Während er die Pflanzen betrachtete, erkannte er endlich die Wahrheit und bemühte sich vergeblich, sie zu leugnen. Die Tränen, die schon lange hinter seinen Lidern warteten, brachen sich Bahn. Er ging zum Sessel zurück, setzte sich hinein und weinte.
Draußen klopfte es.
»Gehen Sie weg!« schluchzte er.
Das Klopfen ging weiter.
»Gehen Sie weg!«
Es war kein anderes Geräusch zu hören. Nur das beharrliche Klopfen. Wie die Stimme seines Gewissens würde es nie verstummen. »Verdammt noch mal, gehen Sie schon!« schrie er und rannte zur Tür, um sie aufzureißen.
Eine Frau stand vor ihm. Sie trug ein schwarzes Kostüm und eine weiße Seidenbluse. Über der Schulter hatte sie eine schwarze Umhängetasche, in der Hand ein in Leder gebundenes Buch. Doch es war das
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