01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
die Dinge um ihn herum war, wie er vorgab. Das Benehmen seiner Kinder beunruhigte ihn also. Was Daisy allerdings viel mehr interessierte, war die Frage, ob er hinsichtlich der Geschichte zwischen Annabel und Lord Stephen etwas unternehmen wollte, und wenn ja, was.
Nach dem Mittagessen verbrachte Daisy die wenigen verbleibenden Stunden Tageslicht mit Innenaufnahmen. Es war ein mühseliges Unterfangen, da sie sehr lange belichten mußte.
Während sich die frühwinterliche Dämmerung herabsenkte, trug sie ihre Ausrüstung die Galerie über der Halle entlang zu ihrem Schlafzimmer. Mittlerweile wäre sie für Phillips Hilfe beim Tragen durchaus dankbar gewesen.
Unten hörte sie Schritte und dann James' Stimme: »Auf der Suche nach meiner Stiefmama?« fragte er in eindeutig zynischem Tonfall.
Daisy ging zum Geländer und blickte hinab.
Lord Stephen betrachtete James mit einem abschätzigen Blick. »Lady Wentwater beaufsichtigt heute nachmittag nicht den Teetisch.«
»Möglicherweise ist sie im Wintergarten.«
»Ach so, ja, vermutlich wird sie das an Italien erinnern.«
»Sie kennen sie aus ihrer Zeit in Italien, nicht wahr?« fragte James überaus interessiert. »Wollen Sie mir nicht erzählen, was ...?«
»Das würde meinem Vorhaben wohl kaum entgegenkommen«, erwiderte Lord Stephen trocken. Träge schlenderte er von dannen.
James, die Lippen vor Wut zusammengebissen, ging mit großen Schritten in entgegengesetzter Richtung davon.
Daisy dachte über diese kurze Szene nach, während sie weiterging. In den unschuldigen Worten hatte irgendeine Bedeutung gelegen, eine unangenehme Bedeutung. James mußte eine tiefe Abneigung gegen seine schöne Stiefmutter hegen, daß er ihr dauernd Lord Stephen auf den Hals hetzte, ohne Rücksicht auf die Gefühle seines Vaters. Stephen Astwick war von James' Spielchen amüsiert, und er war es durchaus zufrieden, sie sich zunutze zu machen. Er verfolgte irgendein eigenes Ziel, zweifellos ein übles.
Was war in Italien geschehen? Daisy bedauerte sehr, daß sie es wahrscheinlich niemals herausfinden würde.
Sie schwänzte den Nachmittagstee und ließ sich in ihrem Zimmer nieder, um ihre Notizen abzutippen, bevor sie vergaß, was sie stenographiert hatte. Mabel brachte ihr eine Tasse Tee hinauf, und Daisy bat das Mädchen, ihr rechtzeitig zum Phototermin vor dem Abendessen ein Bad einzulassen. Nicht, daß sie nicht durchaus in der Lage gewesen wäre, sich selbst eine Badewanne vollaufen zu lassen, doch war es so angenehm, ein Dienstmädchen beanspruchen zu können - wie in den alten Zeiten, vor dem Tod ihres Vaters. Außerdem würde Mabel es dann koordinieren, sollte Fenella ebenfalls baden wollen.
Fenella, überlegte sie - was hielt Fenella eigentlich von der Stiefmutter ihres Verlobten? Eines Tages würde die schüchterne kleine Fenella Lady Wentwater sein, und sie wäre gezwungen, sich mit einer nur unwesentlich älteren Gräfin Henry zu arrangieren.
Daisy wandte sich wieder ihrer Arbeit zu und zwang sich zur Konzentration. Als sie mit ihren Notizen fertig war, begann sie müde, ihre Kameraausrüstung wieder zusammenzustellen.
Das Honorar des imaginären Carswell verdiente sie wirklich sauer genug.
Es klopfte an ihrer Tür. »Hallo, altes Haus«, rief Phillip klagend. »Hast du dich da jetzt auf ewige Zeiten eingeschlossen?«
»Gar nicht, du kommst gerade richtig.« Sie öffnete die Tür und belud ihn mit dem Stativ und der Kamera. »Ich muß das alles vorher noch in der Halle aufbauen.«
Hilfsbereit wie immer, ging Phillip mit ihr hinunter und schob mit Hilfe eines Dieners einen schweren, langen Eichentisch beiseite, um das Stativ aufzustellen. Geduldig trug er es hin und her, während sie die beste Perspektive aussuchte.
»Die da müssen weg.« Sie zeigte auf das halbe Dutzend solider, mit Beschlagnägeln verzierter Ledersessel aus dem siebzehnten Jahrhundert, die um den Kamin herumstanden.
Phillip gehorchte.
Marjorie kam mit verzweifelter Miene in die Halle hineinspaziert. »Habt Ihr wohl Lord Stephen gesehen?« fragte sie.
»Seit Ewigkeiten nicht«, sagte Daisy. »Würde es dir etwas ausmachen, dich einen Moment da drüben neben den Kamin zu stellen, damit ich das Objektiv scharfstellen kann?«
Marjorie schwebte hinüber und stand mit hängenden Schultern da, den scharlachrot geschminkten Mund mißmutig verzogen. »Ich kann ihn nirgendwo finden. Vermutlich läuft er wie üblich meiner lieben Stiefmutter hinterher. Ich verstehe einfach nicht, was er an ihr
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