01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
ihrem Mann, und nach einem Augenblick trat Marjorie von dieser kleinen Gruppe fort.
Sie kam hinüber zum Getränketisch und reichte ihrem Bruder das Glas.
»Mach ihn mal voll, Jimmy, altes Haus.«
»Das wird jetzt aber besser ein Kleiner«, warnte James sie.
»Vater kann jede Minute hier sein.«
»Sei doch nicht so ein Spießer.« Sie zog demonstrativ an ihrer Zigarette und pustete den Rauch über ihre Schulter.
Daisy ergriff rasch die Flucht, denn hier drohte eindeutig ein Familienstreit. Sie ging hinüber zu Annabel und Wilfred. Annabel schaute auf und lächelte abwesend.
»Haben Sie schon die neue Show im Apollo gesehen, Miss Dalrymple?« fragte Wilfred.
»Nennen Sie mich doch Daisy. Nein, noch nicht. Ist sie gut?«
»Ach, man kann es aushalten, wissen Sie. Das große Finale war geradezu -« Seine Stimme erstarb, als Lord Stephen den Salon betrat - »ganz nett gemacht«, beendete er mit Mühe den Satz, und ein haßerfüllter Blick richtete sich auf den älteren Mann.
Während Daisy irgendeine beiläufige Erwiderung auf Wilfreds Worte von sich gab, beobachtete sie Lord Stephen. Er ging hinüber zum Getränketisch, wo Marjorie ihn mit einem schmachtenden Blick begrüßte.
»Lord Stephen nimmt immer einen trockenen Martini«, wies sie ihren Bruder an.
»Ich nehme einen Gin-and-Twist, wenn es Ihnen nichts ausmacht, alter Freund«, bat Lord Stephen prompt.
»In Ordnung.« James warf seiner schmollenden Schwester einen bösen Blick zu und reichte ihm den Drink. Mit ähnlich böser Stimme bat er: »Ach so, Astwick, würde es Ihnen etwas ausmachen, meine Stiefmama zu fragen, ob sie noch einen Drink möchte?«
»Aber das tue ich doch gerne!« Der verbindliche Tonfall wurde durch die raubtierhafte Art, in der Lord Stephen den Mund verzog, und durch das Funkeln seiner harten Augen Lügen gestraft.
Als er sich näherte, wurde Wilfred blaß. »Muß mal eben was mit Tante Jo besprechen«, murmelte er und machte sich aus dem Staub. Warum in aller Welt hatte er den Mann eingeladen, wenn er ihn nicht ausstehen konnte? fragte sich Daisy.
»Miss Dalrymple.« Lord Stephen nickte ihr zu, doch seine Aufmerksamkeit galt bereits der Gräfin: »Annabel, meine Liebe, Bedowe hat mich geschickt, um herauszufinden, ob Sie wohl einen neuen Drink brauchen, aber wie ich sehe, war seine Fürsorge ganz überflüssig.« Er ließ seine Fingerspitzen über den Rücken ihrer Hand gleiten, in der sie das immer noch volle Glas hielt.
Die bernsteinfarbene Flüssigkeit schimmerte, während ihre Hand zitterte. »Ja, danke. Ich habe alles, was ich brauche.«
»Alles? Nur wenige können von sich behaupten, das Glück zu haben, alles zu besitzen, was sie sich wünschen«, sagte er mit einem bedeutsamen Lächeln. »Ich für meinen Teil weiß, daß ich es nicht habe.«
»Ich aber wohl, Lord Stephen.« Sie warf ihm durch ihre langen Wimpern einen kurzen Blick zu. Daisy konnte nicht erkennen, ob sie flirtete, ob sie versuchte, ihn zurückzuweisen, oder ob sie ihn absichtlich reizte, indem sie die Zurückweisung nur spielte.
»Kommen Sie, hatten Sie nicht versprochen, mich Stephen zu nennen? Miss Dalrymple wird glauben, daß Sie mich nicht zu Ihren Freunden zählen. Ich kann Ihnen aber versichern, Miss Dalrymple, daß Annabel und ich sogar sehr gute Freunde sind, aus uralten Zeiten noch, nicht wahr, mein Herzchen?« Er legte ihr die Hand auf den Arm.
»Ja, Stephen.« Ihre Stimme bebte vor unterdrückten Gefühlen. Weder schob sie seine Hand weg, noch ging sie fort.
3
Zu Daisys Erleichterung trat Geoffrey heran und löste die Spannung auf, die zwischen Annabel und Lord Stephen knisterte.
Neben diesen großen, soliden und ehrenwerten jungen Mann wirkte Lord Stephens elegante Figur schmächtig und eher unmännlich. Ein wohltuender frischer Windstoß schien durch den Raum zu wehen.
»Waren Sie gerade reiten?« fragte Daisy. »Ich meine, ich hätte Sie eben von einem der Turmfenster aus gesehen.«
»Ja, es war ein herrlicher Ausritt, sogar mit einer Galoppstrecke«, antwortete er begeistert und strahlte.
»Ist so ein Galopp nicht gefährlich, wo doch jetzt noch dicker Schnee liegt?« fragte Annabel. Lord Stephens Hand glitt von ihrem Arm, als sie sich ihrem jüngsten Stiefsohn zuwandte.
Geoffrey errötete. »Nicht, wenn man das Gelände kennt.«
Nachdem seine Zunge soweit gelockert war, fuhr er fort: »Wenn man weiß, wo die Hindernisse versteckt sind, Gräben und so weiter, dann ist es einfach großartig. Es ist so klar, daß man
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