01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
erst habe ich noch ein paar Fragen. Sie sagen, Sie und Miss Petrie und Lord Beddowe wären gleich nach dem Frühstück zum See gegangen.«
»Erst haben wir Schlittschuhe für mich ausgesucht und meine Kamera und das ganze Zeug zusammengesucht.«
»Richtig, aber das war immer noch ziemlich früh am Morgen.«
Er warf einen Blick auf seine Notizen. »Halb zehn ungefähr. Waren Sie nicht überrascht, daß Lord Stephen schon vor Ihnen unten war?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich war mir ziemlich sicher, daß er es sein mußte, noch bevor ich seine Jacke erkannt habe. Sie müssen wissen, daß er gestern Abend stundenlang davon erzählt hat, wie er sich fit hält, indem er nämlich schon im Morgengrauen loszieht, um Sport zu treiben.«
»Ach, das erklärt die Sache natürlich. Ich hatte nicht verstanden, was er da überhaupt zu suchen hatte.« Der Detective setzte die Kappe auf seinen Füllfederhalter und ordnete wie zum Abschluß seine Papiere. »Ganz offensichtlich war es also ein bedauerlicher, aber erklärlicher Unfall.«
»Also, da bin ich mir nicht so sicher.« Daisy fuhr unbeirrt fort, obwohl er skeptisch die Augenbrauen hochzog. »Sie werden mich wahrscheinlich für einen blöden Dickkopf halten, Mr. Fletcher, aber ich würde mich freuen, wenn Sie gleich einmal mitkommen würden und sich die Bilder ansähen.«
»Die werde ich mir ohnehin vor der Untersuchung anschauen müssen, aber ich bin eigentlich wegen eines anderen Falles hier unten, und ich kann eigentlich gar nicht soviel Zeit erübrigen ...«
»Bitte.«
»Na gut«, sagte er nachsichtig. »Und ich möchte Ihnen auch für Ihre Mühe danken, daß Sie die Leiche photographiert haben.«
»Mühe! Das war schlicht und ergreifend gräßlich.« Daisy platzte fast vor Empörung, während sie ihn durch den Küchentrakt in die Dunkelkammer führte.
Alec Fletcher ging hinter ihr her und bemerkte ihre Wut.
Amüsiert lächelte er ihren stocksteif aufgerichteten Rücken an.
Selbst der strenggeschnittene Tweed-Rock und die blaue Wollstrickjacke konnten ihre Figur nicht verbergen, während sie da vor ihm hermarschierte. Sie war nicht rundlich, hatte aber auch nicht die flache, brettartige Figur, die die jungen Frauen dieser Tage anstrebten. Knuddelig war das Wort, das ihm in den Sinn kam, kaum daß sie den Blauen Salon betreten hatten. Knuddelig, von ihren gold-braunen Haaren und dem runden Gesicht, mit diesem aparten Leberfleck - »Schönheitsfleck« hatte man solche Male im achtzehnten Jahrhundert genannt - bis hinunter zu den schlanken Fesseln, die in modischen beigefarbenen Strümpfen steckten.
Außerdem war sie freundlich, im Gegensatz zum jungen Beddowe, der Alecs Gegenwart anscheinend als unverschämtes Eindringen empfand. Er konnte sich kaum vorstellen, daß sie eine Adlige war oder überhaupt eine Zeugin, die man zu befragen hatte.
Streng gemahnte er sich wieder an seine Pflicht. Als Dank für ihre Hilfe würde er ihre Photos mit dem Lob bedenken, das sie ganz offensichtlich unbedingt hören wollte, um sich dann wieder der Aufgabe zuzuwenden, die ihn eigentlich nach Hampshire gebracht hatte. Er würde an der Untersuchung des Todesfalls teilnehmen müssen, aber glücklicherweise war Astwicks Tod eindeutig ein Unfall, mehr nicht.
Der örtliche Allgemeinmediziner, Dr. Fennis, hatte ihm versichert, daß die Todesursache Ertrinken war. Astwick mußte sich im Fallen den Kopf an einer Kante im Eis gestoßen haben.
Die Schnittwunde an seiner Schläfe rührte wahrscheinlich von einem Schlag her, der ihn schwindelig und schwach hatte werden lassen, vielleicht sogar ohnmächtig. Natürlich hatte er sich danach nicht mehr aus dem eisigen Wasser herausziehen können. Fennis konnte die Todeszeit nicht genau bestimmen, da Minustemperaturen das Einsetzen der Leichenstarre verzögerten, das ohnehin nur selten genau bestimmbar war. Da Astwick allerdings wohl kaum mitten in der Nacht Eislaufen gegangen sein konnte, war der Zeitpunkt des Todes eigentlich nicht fraglich. Eine Autopsie war nicht notwendig. Gott sei Dank war er bei einem unglücklichen Unfall umgekommen, mehr nicht.
Alec hatte keine Lust, Beddowes Vater, Lord Wentwater, in die Quere zu kommen. Obwohl die Zeiten sich geändert hatten, war ein Graf auch heute noch mit Samthandschuhen anzufassen, wie ihm der Commissioner am Telephon durchaus deutlich gemacht hatte.
Miss Dalrymple öffnete eine Tür, die in einen kleinen weißgekalkten Raum mit Steinfußboden führte. Es war ein Spülstein darin, und es roch
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