01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
durchgebrannt?«
»Er hatte eine schwache Lunge, und die Ärzte haben ihm geraten, in ein wärmeres Klima zu ziehen. Ich hätte es nicht ausgehalten, ihn niemals wiederzusehen, also bin ich mitgegangen.«
»Wie oft ich doch wünschte, daß ich damals auch den Stier bei den Hörnern gepackt hätte«, rief Daisy traurig aus. »Und wenn wir nur ein paar Tage miteinander verbracht hätten ...«
Sie mußte schlucken und kämpfte mit den Tränen.
Annabel legte ihr tröstend eine Hand auf den Arm. »Ihre Eltern haben den Mann abgelehnt, den Sie liebten? War er nicht standesgemäß?«
»Ach, er hatte schon ein Einkommen, und seine Familie war gesellschaftlich ganz comme il faut, aber als Quaker hat er den Kriegsdienst verweigert. Anstatt also das Anständige zu tun und sich in einem Schützengraben in die Luft jagen zu lassen, ist er mit einem Ärztetrupp der Quaker unterwegs gewesen, und dabei wurde er mit seiner Ambulanz in die Luft gejagt.«
»Meine Liebe, das tut mir ja so leid.«
Daisy war solch herzliches Mitleid nicht gewöhnt. »Sie verachten ihn also nicht?« fragte sie.
»Ihn verachten? Er hat sein Leben riskiert, um anderen zu helfen, und hat damit genausoviel Mut bewiesen wie jeder andere Soldat auch. Und außerdem hatte er den Mut, sich für seine ehrenvollen Prinzipien einzusetzen. Wie kann man so jemanden denn verachten?«
»Man merkt, daß Sie im Ausland gelebt haben. Die Leute reden immer noch abfällig von den Kriegsdienstverweigerern, und manche von ihnen haben jahrelang im Gefängnis gesessen. Über tausend waren mit den schlimmsten Verbrechern in Dartmoor eingesperrt.«
»Das macht ihren Mut um so größer«, sagte Annabel sanft.
»Meine Eltern haben das anders gesehen. Also wollten wir warten, bis der Krieg vorüber ist, in der Hoffnung, daß ...«
»Wer möchte noch etwas Brandy?« James hatte seinen Stuhl vom Kartentisch zurückgeschoben, an dem Phillip auf dieselbe methodische Weise Karten austeilte, die Daisy noch aus Kindertagen kannte. »Benedictine oder Drambuie? Whisky?«
»Benedictine, bitte, lieber Junge«, sagte Lady Josephine und reichte ihm ihr Likörglas. Daisy bat um dasselbe. Nach einem strengen Blick von Phillip schüttelte Fenella dankend den Kopf, und Daisy sah dann förmlich, wie sich hinter Phillips Stirn kleine Rädchen drehten, bis er beschloß, für das Spiel einen klaren Kopf zu behalten. Sir Hugh bat um einen Brandy mit Soda. Geoffreys Glas Brandy war kaum angerührt, oder aber er hatte es zu irgendeinem Zeitpunkt selbst wieder gefüllt.
»Vater?« fragte James nach.
»Ja, noch einen Zirz Brandy bitte, pur. Annabel, meine Liebe, was möchtest du?«
»Nichts, danke sehr.«
»Gin Tonic für mich, altes Haus«, sagte Wilfred, als sein Bruder auf dem Weg zum Likörschrank an seinem Stuhl vorbeikam. Dann wandte er sich wieder Fenella zu. »Nein, nie würde ich in einer bitterkalten Winternacht auf dem Eis herumhacken, wär mir viel zu ungemütlich«, sagte er. Offensichtlich war er gerade mitten in einem Gedanken unterbrochen worden.
»Aber ich will ja auch niemanden hier beiseite schaffen.«
James hielt neben Fenella inne. »Hier ist nur eine Person anwesend, die daran interessiert gewesen sein könnte, Astwick loszuwerden«, sagte er laut und giftig, wobei er Annabel anstarrte. »Welches Motiv könnte eindeutiger sein, als der Wunsch sich von einem Liebhaber zu befreien, der ungelegen kommt?«
»Halt den Mund!« Geoffrey schoß von seinem Platz auf, und sein linker Arm schwang schon heraus, während sich sein muskulöser Körper noch aufrichtete. James trat einen Schritt zurück, doch Geoffreys Faust traf ihn seitlich am Kiefer, so daß er zurückstolperte. Er glitt aus und fiel auf den Rücken, und da war Geoffrey schon auf ihm, hatte seine Schultern gepackt und stieß seinen Kopf immer wieder gegen den Boden, während James betäubt und kraftlos versuchte, seinen Bruder abzuwehren.
»Also hör mal, ehrlich!« Wilfred sprang auf, griff sich Geoffreys Kragen und zog erfolglos daran.
Fenella kreischte auf. Phillip sprang so plötzlich auf die Füße, daß der Kartentisch umfiel, und eilte Wilfred zu Hilfe.
»Schluß jetzt!« Lord Wentwaters eisige, schneidende Stimme bereitete dem Chaos ein Ende.
Geoffreys Schultern sackten zusammen. Er stand auf und klopfte sich gedankenverloren die Kleider ab. Mit Wilfreds Hilfe setzte sich James auf und hielt sich den Kopf.
»Geoffrey, geh auf dein Zimmer. James, in mein Arbeitszimmer, und da wartest du auf mich.«
»Es
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