01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
noch diese Beute quittieren, nur falls Astwicks Familie reklamiert, daß ein Vermögen an Juwelen und Obligationsscheinen aus seinem Zimmer verschwunden ist.«
Als Tring den Blauen Salon verließ, verkündete der Gongschlag, daß es Zeit zum Umziehen war. Zögerlich verließ Daisy den Raum.
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer sah sie kurz nach Marjorie. Sie war wach, wenn auch sehr benommen, klammerte sich an Daisys Hand und schluchzte heftig. Aber Daisy hatte den Eindruck, daß ihre Trauer nicht besonders tief war, mehr noch, daß ihre Tränen eigentlich etwas verbargen. Wenn Marjorie tatsächlich tiefer Gefühle fähig war, dann galten sie bestimmt nicht Lord Stephen.
Sie wurde langsam zynisch, warf sich Daisy auf dem Weg in ihr Zimmer vor. Daß sie ihn von der ersten Sekunde an als einen üblen Zeitgenossen eingeschätzt hatte, mußte nicht heißen, daß sich niemand in ihn verlieben konnte.
Andererseits mußte Marjorie auch nicht leidenschaftlich in ihn verliebt sein, um durch seine Gleichgültigkeit in Rage zu geraten. Möglicherweise ging es mehr um verletzten Stolz als um unerwiderte Liebe. Vielleicht hatte sie ihn bestrafen oder ihn gewinnen wollen, indem sie ihm nach seinem kalten Bad hegte und umsorgte. In jedem Fall war es wahrscheinlicher, daß Marjorie das Eis aufgeschlagen hatte und nicht Annabel.
Eilig zog sich Daisy um - es war schon spät. Sie entschied sich wieder für ihr altes graues Kleid. Immerhin hatte es erst heute Morgen einen Todesfall gegeben, und ihr anderes Abendkleid war zu bunt.
Kaum hatte sie das Wohnzimmer betreten, bat Drew schon zum Abendessen, so daß sie keine Zeit mehr hatte, einen Cocktail zu trinken, den sie dringend benötigt hätte. Ein Glas Wein zu den Hors-d'Oeuvres und ein zweites zur Suppe munterten sie jedoch enorm auf; das dritte Glas zum Fischgang lehnte sie schon lieber ab. Ihr fiel auf, daß die Weingläser am Tisch ungewöhnlich häufig gefüllt wurden. Doch alle waren ernst und unterhielten sich entweder gedämpft oder schwiegen. Die Polizei im Haus zu haben, war genauso bedrückend, als wäre ein Familienmitglied gestorben. Daisy war froh, daß sie zwischen dem weltgewandten Sir Hugh und dem schweigsamen Geoffrey saß. Keiner von beiden würde sie mit Fragen über die Untersuchung in Verlegenheit bringen.
Kaffee, Brandy und Liköre wurden im Salon gereicht, in dem sich alle einfanden. Anscheinend fühlte man sich in Gesellschaft sicherer.
Lady Josephine sagte trotzig und mit hochrotem Gesicht: »Ich sehe nicht ein, warum wir nicht einen ruhigen Rubber Bridge spielen können.« Sie schaute sich nach Spielern um.
»Spielen Sie Bridge?« fragte Daisy Annabel.
»Nicht besonders gut.«
Sie senkte die Stimme. »Spielen Sie denn gerne?«
»Überhaupt nicht. Aber leider kann man sich als Gastgeberin diesen Dingen nicht immer entziehen.«
Daisy nahm ihren Arm. »Dann schnell, kommen Sie hier herüber und erzählen Sie mir von den Gärten in Italien. Sind sie alle so symmetrisch wie die Gärten, die wir hierzulande italienisch nennen? Viereckig geschnittene Buchsbaumhecken und kegelförmige Trauerzypressen?«
Annabel lächelte. »Ich vermute, Sie spielen Bridge, können es aber nicht leiden?«
»Ich wünschte, ich hätte es nie gelernt«, sagte Daisy mit einem Schaudern.
Sie setzten sich auf ein Sofa, das in einiger Entfernung zum Kamin stand. Sir Hugh, Phillip und James gingen zu Lady Josephine an den Kartentisch; Wilfred unterhielt sich fröhlich mit Fenella. Der schweigsame Geoffrey saß daneben, ohne sich jedoch an der Unterhaltung zu beteiligen, bemerkte Daisy. Lord Wentwater saß am Kamin und las in The Field.
Daisy behielt sie alle im Auge, während Annabel den Garten der heruntergekommenen Villa bei Neapel beschrieb, in der sie gewohnt hatte: ein wildes Paradies aus rosa Oleander, lila Bougainvilleen, hellblauem Bleiwurz und scharlachrotem Hibiskus. »Es war richtig prachtvoll, so farbenfroh, und Rupert hat ihn unglaublich gerne gemalt«, sagte sie leise. »Aber ich hab Vergißmeinnicht und Narzissen vermißt.«
»Rupert war Künstler?«
»Ja. Er war überhaupt nicht das, wofür ihn der Detective heute nachmittag wohl gehalten hat. Er war sanft und irgendwie unsicher, ein eher ruhiger Mensch, und aus Geld machte er sich gar nichts. Das war auch gut so, denn viel hatte er nicht. Meine Tante, also die Tante, bei der ich aufgewachsen bin, hat unsere Beziehung zutiefst mißbilligt, und sie wollte mir verbieten, ihn zu heiraten.«
»Also sind Sie mit ihm
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