01 - Nacht der Verzückung
Tanten, die im Grunde gar nicht ihre
Tanten waren Bessie Doyle und die Schwester ihrer Mama. Es war ihr sogar
gelungen, sich glücklich und gefestigt zu fühlen, in Einklang mit sich und der
Welt. Sie hatte seit ihrer Abreise aus London nicht ein einziges Mal ihren
Alptraum geträumt.
Aber
Newbury Abbey, obwohl sie bis jetzt weder den Park noch das Haus gesehen hatte,
fühlte sich an wie zu Hause.
»Oh,
seht nur!«, rief sie voller Entzücken aus, nachdem die Kutsche durch die Tore
gebogen war und die Auffahrt durch den Wald entlangfuhr. Die Bäume erglühten in
prächtigen roten, gelben und braunen Farbtönen. Einige wenige Blätter waren
bereits gefallen und lagen als bunter Teppich auf dem Weg. »Hast du jemals
etwas Herrlicheres als England im Herbst gesehen, Vater? Du, Elizabeth?«
»Nein«,
sagte ihr Vater.
»Nur
England im Frühling«, sagte Elizabeth. »Und eigentlich ist es dann nicht
herrlicher, nur genauso herrlich.«
Es war
Frühling gewesen, als Lily zum ersten Mal hierher gekommen war. jetzt war
Herbst - Oktober. Was war in den Monaten seither alles geschehen, dachte
Lily. Sie konnte sich daran erinnern, mühsam in der Nacht diese Auffahrt
entlanggegangen zu sein, die Hand um ihre Tasche gekrallt ...
Sie
hatte ihm Anfang September geschrieben, wie er es erbeten hatte. Sie hatte
Elizabeth gefragt, ob es zu beanstanden sei, wenn sie an einen allein stehenden
Gentleman schrieb. Elizabeth hatte mit einem Augenzwinkern geantwortet, dass es
daran wirklich nichts zu beanstanden gäbe. Aber Vater, der ebenfalls anwesend
gewesen war, hatte sie alle daran erinnert, dass Lily sehr erfahren darin war,
jede Regel fast bis zum Zerreißen zu dehnen, ohne jemals etwas wirklich
Ungebührliches zu tun - das sei ihr größter Zauber, hatte er mit der
lächelnden Nachsicht hinzugefügt, die sie zunächst so an ihm überrascht hatte.
Und so hatte sie geschrieben - mit mühseliger Sorgfalt und runder,
kindlicher Handschrift. Sie arbeitete an ihrer Schreibkunst, aber es dauerte
seine Zeit.
Sie sei
glücklich bei ihrem Vater, hatte sie geschrieben. Sie sei glücklich in
Elizabeth' Gesellschaft. Sie sei auf Nuttall Grange gewesen und habe ihren
Großvater kennen gelernt. Sie hoffe, Lady Kilbourne ginge es gut, ebenso Lauren
und Gwendoline. Sie hoffe, dass es ihm gut ginge. Sie unterschrieb als seine
ergebene Dienerin.
Er
hatte zurückgeschrieben, um sie und ihren Vater einzuladen, als Gäste nach
Newbury Abbey zu kommen, um im Oktober den fünfzigsten Geburtstag seiner Mutter
zu feiern. Elizabeth hatte bereits erste Vorkehrungen getroffen.
Und so
waren sie also da. Sie waren Gäste. Aber es fühlte sich an wie eine Heimkehr.
Und Lily, die plötzlich, als das Haus auftauchte, mit glänzenden Augen zu ihrem
Vater blickte, sah, dass er verstand und ein wenig traurig war, obwohl er sie
anlächelte.
»Vater.«
Sie lehnte sich impulsiv vor und ergriff seine Hand. »Danke, dass du zugestimmt
hast, hierher zu kommen. Ich liebe dich so sehr.«
Er
tätschelte ihre Hand. »Lily«, sagte er, »du bist einundzwanzig, mein Liebes.
Erschreckend alt, um immer noch bei deinem Vater zu leben. Ich gehe nicht davon
aus, dass ich dich noch viel länger ganz für mich allein haben werde.«
Aber
für eine solche Aussage war es noch viel zu früh. Sie setzte sich zurück und
ihr Lächeln verblasste ein wenig. Sie würde nichts als selbstverständlich
voraussetzen. Einige Monate waren vergangen. Vieles hatte sich in ihrem Leben
verändert und mochte sich auch in seinem Leben verändert haben. Er hatte sie
aus Höflichkeit eingeladen. Ohne Frage würde eine Menge anderer Gäste anwesend
sein. Sie wollte der Tatsache, dass er sie eingeladen hatte, nicht allzu
viel Bedeutung beimessen.
Ihre
Kutsche war gesichtet worden. Die großen Doppeltüren öffneten sich, als sie sich
näherten, und Menschen traten aus dem Haus - Gwendoline, Joseph, die
Gräfin und ... er.
Es war
der Marquis, der die Kutschentür öffnete und die Trittstufen herunterließ. Der
Herzog war fast schon ausgestiegen, bevor sie heruntergelassen waren, und drehte
sich um, um Elizabeth zu helfen. Die Gräfin trat vor, um sie zu umarmen. Alles
redete gleichzeitig.
Dann
lehnte sich jemand in die Kutsche und reichte Lily die Hand -es war, als
wären sie allein. Alles andere trat in den Hintergrund. Er sah sie mit leuchtenden
Augen und fest zusammengepressten Lippen an. Sie strahlte verlegen zurück.
»Lily«,
sagte er.
»Ja.«
Und plötzlich wusste sie, dass all ihre Ängste
Weitere Kostenlose Bücher