01 - Nacht der Verzückung
er
feststellte, dass er noch immer seine Hochzeitskleider trug. Aber er würde
nicht umkehren, um sich umzuziehen. Wahrscheinlich würde er kein zweites Mal
den Mut aufbringen, diesen Weg anzutreten.
Er
erkannte, dass er im Begriff war, sich einer der schwierigsten Begegnungen
seines Lebens zu stellen.
***
Lauren war nicht im
Witwenhaus. Er fand sie hinter dem Haus im Freien, auf einer Baumschaukel
sitzend, wo sie sich gedankenverloren mit einem Fuß vor und zurückstieß. Blicklos
starrte sie vor sich auf die Erde. Gwendoline saß neben ihr im Gras. Beide
trugen noch ihre Hochzeitskleidung.
Er
wünschte sich, irgendwo anders auf dieser Erde zu sein, nur nicht hier, dachte
Neville, bevor seine Schwester ihn erblickte. Die beiden waren ihm zwei der
liebsten Menschen auf der Welt und er hatte ihnen diesen Schmerz zugefügt.
Und es gab keinen Trost. Nur eine völlig unzulängliche Erklärung.
Gwendoline
sprang auf, als sie ihn sah, und ihre Augen blitzten ihn an. »Ich hasse dich,
Neville«, schrie sie. »Solltest du gekommen sein, um sie noch unglücklicher zu
machen, kannst du sofort wieder gehen - auf der Stelle! Was hat das
alles zu bedeuten? Du schuldest uns eine Erklärung. Was sollte das heißen,
diese fürchterliche Frau ist deine Gemahlin?« Laut schluchzend brach sie in
Tränen aus und wandte sich schroff ab.
Lauren
hatte aufgehört zu schaukeln, doch sie drehte sich nicht zu ihm um.
»Lauren?«,
sagte Neville. »Lauren, mein Liebling.« Er wusste noch immer nicht, was er ihr
sagen sollte.
Ihre
Stimme war gefasst, aber tonlos, als sie anfing zu sprechen. »Im Grunde ist
alles in Ordnung. Letztendlich war es doch nur ein bequemes Arrangement, unsere
Hochzeit, nicht wahr? Weil wir zusammen aufgewachsen sind und uns mochten und
weil Onkel und Großvater es immer so gewollt haben. Und als du fortgingst, hast
du mir gesagt, dass ich nicht auf dich warten solle. Du warst sehr offen und
ehrlich zu mir. Du warst weder mit mir verlobt noch mir versprochen. Es stand
dir völlig frei, sie zu heiraten. Ich mache dir keinen Vorwurf.«
Er war
wie vor den Kopf gestoßen. Er hätte es weitaus lieber gesehen, wenn sie sich
mit gefletschten Zähnen auf ihn gestürzt hätte, die Finger zu Klauen verkrallt.
»Lauren«,
sagte er, »lass mich erklären, wenn ich darf.«
»Es
gibt nichts zu erklären«, sagte Gwendoline wütend, nachdem sie ihre Tränen
unter Kontrolle gebracht hatte. »Ist sie deine Frau oder ist sie es nicht,
Neville? Das ist alles, was zählt. Aber natürlich hast du in der Kirche nicht
vor aller Ohren gelogen. Sie ist deine Frau.«
»Ja«,
sagte Neville.
Ach
hasse sie«, schrie Gwendoline. »Schäbige, hässliche, heruntergekommene Kreatur.«
Aber
darauf wollte sich Lauren nicht einlassen. »Wir wissen nichts von ihr, Gwen«,
sagte sie. »Ja, Neville. Erklär es mir. Erklär es uns. Es muss eine plausible
Erklärung geben, da bin ich sicher. Sobald ich es verstehe, werde ich in der
Lage sein, es zu akzeptieren. Alles wird gut.«
Sie
stand, natürlich, noch unter Schock. Wollte es nicht wahrhaben. Sie wollte sich
selbst davon überzeugen, dass das, was geschehen war, letztendlich nicht von
solch zerstörerischem Ausmaß, sondern lediglich etwas verwirrend war, jedoch
vollkommen nachvollziehbar, sobald sie eine Erklärung gefunden hatte. Neville
bemerkte, dass die so sorgfältig geschneiderte und bestickte Schleppe ihres
Hochzeitskleides im Staub lag.
Es war
so typisch für Lauten, rational statt emotional vorzugehen, selbst wenn es im
Grunde keinen rationalen Weg mehr gab. Sie hatte sich schon immer so verhalten,
war immer schon die Besonnene von den dreien gewesen, diejenige, die an die
Folgen gedacht hatte, diejenige, die die Erwachsenen nicht ärgern wollte. Zum
Teil war dies natürlich auf ihre Geschichte zurückzuführen. Im Alter von drei
Jahren war sie nach Newbury Abbey gekommen, als ihre Mutter, die verwitwete
Viscountesse Whitleaf, den jüngeren Bruder des verstorbenen Grafen geheiratet
hatte. Sie war auf dem Landsitz geblieben, als sich die Frischvermählten auf
die Hochzeitsreise begaben - von der sie nie wieder zurückkehrten. Von
verschiedenen Orten der Welt waren Briefe und ein paar Päckchen eingetroffen,
dann nichts mehr. Nicht einmal eine Nachricht von ihrem Tod.
Laurens
Verwandtschaft väterlicherseits hatte keine Schritte unternommen, sie wieder zu
sich zu nehmen. Vielmehr hatte sie, als sie ihnen zu ihrem achtzehnten
Geburtstag einen Brief geschrieben hatte, eine kurze
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