01 - Nacht der Verzückung
lange hatte sie seinen Anblick unerschütterlich in
ihrem Gedächtnis und ihren Träumen bewahrt und jetzt war er wieder real. Und er
beobachtete ihr Näherkommen, kräuselte die Lippen und in seinen Augenwinkeln zeigten
sich kleine Fältchen. Sie alle beobachteten ihr Näherkommen. Sie hatte sich
nicht geirrt, dachte sie. An diesem Morgen sah tatsächlich alles viel
freundlicher aus.
Neville
verneigte sich vor ihr und nahm ihre Hand ... um sie zu küssen.
»Guten
Morgen, Lily«, sagte er.
»Ich
bin unten am Strand gewesen«, erzählte sie. »Ich wollte den Sonnenaufgang
beobachten. Und dann erkundete ich die Felsen und fand mich im Dorf wieder.«
Ihr Vorhaben und ihr Zielort würden ihren Aufzug erklären.
»Ich
weiß.« Er lächelte sie an. »Ich sah dich von meinem Fenster aus.«
Dann
verbeugte sich der Marquis mit dem langen Namen vor ihr. »Ich bin so von
Ehrfurcht ergriffen, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann«, sagte er,
sprach dann allerdings trotzdem weiter. »Keine der Damen, die ich kenne, steht
jemals früh genug auf, um zu wissen, dass die Sonne überhaupt etwas so
Absonderliches tut, wie morgens aufzugehen.«
»Dann
verpassen sie eine der größten Freuden des Lebens<, versicherte ihm Lily.
»Könntet Ihr mir bitte noch einmal Euren Namen nennen, Sir? Ich erinnere mich
nur, dass er lang ist.«
»Joseph«,
sagte er und lachte, wodurch er sich als äußerst gut aussehenden Mann zeigte.
»Wir sind jetzt Cousins, Lily, da brauchst du dich nicht mit Attingsborough
abzuquälen.«
»Joseph«,
wiederholte sie. »Ich glaube, das kann ich mir merken.«
»Und
ebenso James«, sagte einer der anderen Herren und verneigte sich vor ihr. »Ein
weiterer Cousin, Lily. Ich habe eine Frau, Sylvia, und einen kleinen Sohn,
Patrick. Meine Mutter ist Nevs Tante Julia, die Schwester seines Vaters. Mein
Vater ...«
»Hol's
der Teufel, James.« Der vierte Gentleman ließ seinen Blick gen Himmel
schweifen. »Lilys Augen verdrehen sich und der Kopf rotiert ihr auf den
Schultern. Warum fügst du zu ihrer Erbauung nicht auch noch hinzu, dass
Nevilles weitere Tanten väterlicherseits Mary und Elizabeth heißen und dass
sein Onkel das berühmte schwarze Schaf, das verlorene Schaf, ist, der
sich vor mehr als zwanzig Jahren auf eine Hochzeitsreise einschiffte und nie
wieder zurückkehrte? Ich bin Ralph, Lily. jawohl, noch ein Cousin. Solltest du
meinen Namen vergessen haben, wenn wir uns das nächste Mal begegnen, kannst du
mich gern mit >du< anreden.«
»Vielen
Dank«, sagte sie lachend. Alles war einfacher am heutigen Morgen. Vielleicht
würde es von Tag zu Tag einfacher werden. Allerdings hatte sie sich in
männlicher Gesellschaft immer schon wohl gefühlt, vielleicht weil sie mit so
vielen Männern in ihrer Umgebung aufgewachsen war.
»Der
Ausflug hat die lieblichsten Rosen auf deine Wangen gezaubert«, sagte der
Marquis. »Aber wie hast du es nur geschafft, barfuß so weit zu laufen?« Er
betrachtete ihre Füße durch sein Monokel.
»Oh.«
Sie blickte an sich hinunter. »Es ist viel bequemer, als in Schuhen zu laufen.
Wenn du deine Stiefel ausziehen und durchs Gras laufen würdest, Joseph, würdest
du feststellen, dass ich Recht habe.«
»Ach du
meine Güte«, bemerkte er.
»Aber
das wirst du nicht tun«, sagte sie und lächelte ihn sonnig an. »Ich weiß es.
Auf der Iberischen Halbinsel gibt es Männer, die niemals ihre Stiefel ausziehen
- kein einziges Mal. Ich schwöre, dass sie sogar mit ihnen schlafen
gehen. Manchmal fragte ich mich, ob sie überhaupt Füße haben oder ob ihre Beine
direkt unter dem Knie aufhören. Sie würden eine solche Missbildung natürlich niemals
zugeben. Stellt Euch nur vor, wie klein sie gewesen wären - und Männer
legen großen Wert auf ihre Größe. Sie hassen es, zu anderen Männern
aufzublicken, und sind zutiefst beschämt, wenn sie zu einer Frau aufschauen
müssen.«
Die
Gentlemen lachten und Lily fiel in ihr Gelächter ein.
»Guter
Gott«, sagte Joseph und benutzte jetzt sein Monokel, um auf seine eigenen
Stiefel hinunterzusehen, »mein Geheimnis ist entdeckt. Als ich bei eins vierzig
aufhörte zu wachsen, ließ ich mir von Hoby Stiefel anfertigen - hohe
Stiefel. Damit ich aus luftigen Höhen auf die Erde herunterblicken konnte.«
»Er
tanzt sogar damit, Lily«, sagte Ralph. »Du würdest bestimmt nicht gern deine
Zehen aufs Spiel setzen, um mit Joe ein Tänzchen zu wagen.«
»Wenn
man an die Stiefel klopft«, fügte James hinzu, »klingen sie
Weitere Kostenlose Bücher