01 - Nacht der Verzückung
unbeteiligte Puppe, die die
Arme hob, wenn jemand an dem richtigen Faden zog, und eine Pirouette drehte,
wenn ein anderer Faden gezogen wurde, und die ein dauerhaftes Lächeln
aufgesetzt hatte. Ihre Freude über die neuen Kleider war schnell verflogen. Sie
wusste nichts und war gezwungen, alle Entscheidungen denen zu überlassen, die
sich auskannten. Und die ganze Zeit über quälte sie diese dümmliche Sorge -
konnte er sich das alles überhaupt leisten? Noch dazu hatte sie vergessen, ihn
zu fragen, ob er Captain Harris das Geld schicken könnte, das sie sich von ihm
geliehen hatte. Wie war es möglich, dass sie das versäumt hatte?
Als die
Prozedur endlich ausgestanden war und sie die Schneiderinnen allein gelassen
hatten, damit diese ihre Sachen zusammenpacken konnten - mit verblüfften
Mienen hatten sie Lilys Angebot abgelehnt, ihnen zu helfen
nahm
Elizabeth ihren Arm.
»Arme Lily«,
sagte sie. »Das ist alles sehr schwierig für dich, nicht wahr? Komm, beim
Mittagessen kannst du dich ein wenig entspannen.« Sie lachte mitleidig auf.
»Aber selbst eine Mahlzeit ist für dich keine Erholung, nicht wahr? Im Laufe
der Zeit wird alles einfacher, das verspreche ich dir.«
Lily
hätte ihr gern geglaubt, aber sie war sich da nicht so sicher. Wenn sie doch
die Zeit zurückdrehen könnte, dachte sie, nur ein paar Tage ... Aber was hätte
sie anderes tun können, als hierher zu kommen? Selbst wenn sie sich
entschlossen hätte, zu warten, bis Captain Harris den Brief geschrieben hätte,
sie hätte das Unvermeidliche nur hinausgezögert. Sie hatte keine andere Wahl
gehabt, als hierher zu kommen. Sie war Nevilles Frau. Er hatte ein Recht zu
wissen, dass sie noch am Leben war.
Was sie
sich wirklich wünschte, war, den ganzen Weg bis zu jenem Tag zurückgehen zu
können, an dem ihr Vater gefallen war. Sie wünschte, sie könnte zurückgehen und
mit klarem Verstand und Verantwortungsbewusstsein hören, was Major Newbury ihr
danach gesagt hatte, damit sie den Mut aufbringen konnte, nein zu sagen, wo sie
ja gesagt hatte.
War es
wirklich das, was sie sich wünschte? Dass sie ihn niemals geheiratet hätte?
Dass es jene Nacht niemals gegeben hätte? Wäre jene Nacht nicht gewesen, jener
Traum von Liebe und Vollkommenheit, sie wäre nicht in der Lage gewesen, das zu
überleben, was ihr danach widerfahren war. Zumindest nicht bei klarem Verstand.
***
Lily ging nicht
wieder nach draußen. Neville beobachtete mit tiefer Sorge, wie sie von seinen
Verwandten überrollt und in Anspruch genommen wurde, von denen die meisten
zumindest weitestgehend bereit waren, sich angemessen zu verhalten und sie in
ihrer Mitte aufzunehmen. Und sie tat ihr Bestes, um fröhlich zu wirken, Namen
und Verwandtschaftsgrade zu lernen, die zahlreichen Fragen zu beantworten, die
an sie gerichtet wurden, und in Fragen der Etikette seiner Führung und der
seiner Mutter und Elizabeth' zu folgen. Aber die Farbe, die auf ihren Wangen
gewesen war, als sie von ihrem morgendlichen Ausflug zurückkehrte, und das
Leuchten in ihren Augen und ihre Keckheit all die Merkmale der alten Lily -
waren im Laufe des Tages wieder verschwunden.
Er
machte mit ihr einen Rundgang durchs Haus und sie wirkte interessiert und
beeindruckt. Lange und eingehend betrachtete sie die Familienporträts in der
Galerie.
»Wie
wundervoll muss es sein«, sagte sie, als sie den lang gezogenen Raum zur Hälfte
durchschritten hatten, »so viel über seine Ahnen zu wissen und auch noch Bilder
von ihnen zu haben. Du siehst deinem Großvater auf diesem Porträt sehr ähnlich.
Weder Mama noch Papa haben viel über ihre Familien gesprochen, über meine
Vorfahren. Bis zu dem Tag, als Papa starb, wusste ich nicht, wie allein ich
doch war. Wenn ich nach meiner Rückkehr nach England seine oder Mamas Verwandte
hätte finden wollen, ich hätte nicht einmal gewusst, wo ich hätte suchen
sollen. Ich vermute, Leicestershire ist groß.«
»Du
warst nicht allein«, ließ er sie wissen und sein Herz verzehrte sich nach ihr.
»Du hattest mich und meine Familie.« Doch am Tag nach ihrer Hochzeit hatte ihm
sein bloßer Augenschein und die flüchtig beobachtete Bestätigung durch Harris
genügt, sodass er sich nicht auf die Suche nach ihr begeben hatte, um sie nach
Hause in Sicherheit zu bringen.
Sie
ging zum nächsten Bild.
»Hattest
du keine Bilder von deinem Vater oder deiner Mutter in deinem Amulett, Lily?«,
fragte er sie. Er erinnerte sich, dass sie es früher immer getragen hatte,
obwohl jetzt
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