01 - Nacht der Verzückung
diesem
abgelegenen Ort doch noch miteinander reden. Und es würde ihn nicht stören,
dass sie auf einen Baum geklettert war. Sie winkte ihm zu, doch dann erkannte
sie, dass er es nicht war. Irgendetwas an der Art, wie die Gestalt dastand, war
ihr fremd.
Der
Mann - oder die Frau - verschwand. Oder ging in Deckung. Vielleicht
verlegen, sie auf einem Ast sitzen zu sehen? Oder vielleicht hatte, wer auch
immer es war, sie nicht gesehen.
Lily
war enttäuscht. Vielleicht war es an diesem Nachmittag doch nicht das Richtige
für sie, allein zu sein. Sie würde nach Hause zurückgehen, entschied sie, als
sie vorsichtig wieder zu Boden kletterte und sich über den Pfad auf den Weg zum
Steingarten machte. Vielleicht würde Elizabeth Lust haben, mit ihr spazieren zu
gehen.
Als sie
auf der Hälfte des Weges um eine Biegung kam, stieß sie beinah mit dem Herzog
von Portfrey zusammen, der aus der entgegengesetzten Richtung kam - und
einen dunklen Umhang trug.
»Oh«,
sagte Lily, »Ihr wart das.«
»Ich
war in den Stallungen, als Ihr vor einiger Zeit vorbeikamt«, sagte er, »und ich
dachte, Ihr wäret auf dem Rhododendronweg. Ich entschied mich gerade eben, Euch
entgegenzugehen.« Er bot ihr seinen Arm.
»Das
war sehr nett von Euch«, sagte sie und nahm an. Aber weshalb hatte er auf der
Suche nach ihr oder nach jemand anderem so verstohlen dagestanden und war dann
umgekehrt, nur um erneut aufzutauchen und vorzugeben, dass er gerade auf dem
Weg war, sie zu treffen?
»Nicht
der Rede wert«, sagte er. »Ihr habt mir vor einiger Zeit von Eurer Mutter erzählt,
Lily, als wir unterbrochen wurden.«
Sie
waren von Elizabeth unterbrochen worden, die ihm erklärt hatte, dass er in
seiner Neugier zu weit gehe.
»Ja,
Sir«, sagte Lily.
»Sagt
mir«, fragte er sie. »Stammte sie auch aus Leicestershire?«
»Ich
glaube, ja, Sir«, sagte sie.
»Und
ihr Mädchenname?«
Lily
hatte keine Ahnung und das sagte sie ihm auch. Aber die bohrende Art seiner
Fragen verursachte ihr Unbehagen.
»Wie
sah sie aus?«, fragte er. »Wie Ihr?«
Nein.
Ihre Mutter war eher pummelig gewesen, mit einem runden Gesicht und rosigen
Wangen, und sie hatte dunkle Augen gehabt. Sie war groß gewesen -
jedenfalls war sie ihrem Kind groß vorgekommen, das bei ihrem Tod erst sieben
Jahre alt gewesen war. Sie hatte einen weiten und behaglichen Busen gehabt, an
dem wo man sich ankuscheln konnte - allerdings verzichtete Lily bei der
Beschreibung, die sie dem Herzog gab, auf dieses Detail.
»Wie
alt seid Ihr genau, Lily?«, fragte er.
»Zwanzig,
Sir.«
»Ah.«
Er schwieg für einige Augenblicke. »Zwanzig. Ihr seht jünger aus. Was ist Euer
Geburtsdatum?«
»Ich
bin zwanzig Jahre alt, Sir«, gab sie steif zur Antwort und begann, sich von den
bohrenden Fragen des Herzogs belästigt zu fühlen.
Sie
hatten bereits den Steingarten hinter sich gelassen und näherten sich dem
Springbrunnen. Er blickte sie an. »Ich bitte um Entschuldigung, Lily«, sagte
er. »Ich bin aufdringlich gewesen. Bitte vergebt mir. Es ist nur, dass Ihr mich
an eine alte ... eine alte Leidenschaft erinnert, so könnte man es wohl nennen,
von der ich geglaubt hatte, mich erholt zu haben - bis zu dem Augenblick,
da Ihr in das Hauptschiff der Dorfkirche tratet.«
Er
verwirrte sie. Sie fühlte sich von ihm belästigt. Und sie war sich nicht
sicher, ob sie sich nicht auch ein wenig vor ihm fürchten sollte.
»Vergebt
mir.« Er hielt am Brunnen, lächelte sie an und hob ihre Hand an seine Lippen.
»Natürlich,
Sir«, sagte sie großmütig, zog ihre Hand zurück und wandte sich ab, um
leichtfüßig die Stufen zur Terrasse hinaufzueilen. Sie vergaß, dass sie in
ihrem Aufzug besser zum Dienstboteneingang hätte rennen sollen. Aber zu ihrem
Glück lief ihr niemand außer dem Diener Mr. Jones über den Weg, der errötete
und mit einem verlegenen Lächeln auf ihre freundliche Begrüßung antwortete.
Der
Herzog von Portfrey hatte ein angenehmes, elegantes Auftreten und ein
gewinnendes Lächeln, dachte sie. Aber es wäre eine Dummheit, nicht weiterhin
vor diesem Mann auf der Hut zu sein.
***
Am folgenden Tag
war Neville schon frühmorgens mit seinem Aufseher in Verwaltungsangelegenheiten
unterwegs. Es war kurz vor Mittag, als er allein durch das Dorf zurückkehrte.
Er entschloss sich, am Witwenhaus Halt zu machen, um nach Lauten und Gwen zu
sehen, obwohl sie fast jeden Tag dem Haupthaus einen Besuch abstatteten. Lauren
bestand darauf, sich einfach so zu verhalten, als sei nichts geschehen. Fast
könnte
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