01 - Nacht der Verzückung
einige Male tief ein und
roch Blätter und Rinde und das Salz der Seeluft. Aber ihre alten Fähigkeiten
wollten sich an diesem Nachmittag nicht einstellen. Sie fühlte sich einsam.
Neville war seit jener fürchterlichen Szene in der Hütte sehr sanft mit ihr
umgegangen. Sehr sanft und höflich - und sehr zurückhaltend. Er schien
seiner Wege zu gehen, um nicht mit ihr allein zu sein. Vielleicht wollte er sie
nicht noch einmal ängstigen.
Er
hatte missverstanden, was geschehen war. Er hatte geglaubt, sie habe sich vor
ihm gefürchtet, gefürchtet, dass er sich ihr gegen ihren Willen aufdrängen
würde. Doch das war es nicht gewesen. Sie hatte sich davor gefürchtet, dass es
zu mehr als nur dem Kuss kommen könnte, sie hatte Angst gehabt herauszufinden,
wie es sein würde. Sie hatte sich davor gefürchtet, dass der eine Traum, der
nun schon anderthalb Jahre andauerte, für alle Zeiten zerstört werden könnte
und nichts da wäre, ihn zu ersetzen. Was wäre, wenn sich herausgestellt hätte,
dass es mit ihm nicht anders war als mit Manuel? Was wäre, wenn sie sich danach
wieder wie ein Ding gefühlt hätte, ein lebloses Objekt, das benutzt
worden war, um ihm körperliche Erleichterung zu verschaffen? Sie ahnte, dass es
anders gewesen wäre. Das sagte ihr die Erinnerung. Und er war so warm und
zärtlich gewesen und hatte so sauber und nach Moschus geduftet. Sie hatte ein
Aufwallen intensiven Verlangens verspürt.
Aber
was wäre, wenn es sich dennoch als schmutzig herausgestellt hätte?
Vögel
sangen, Dutzende, vielleicht Hunderte. Doch in den Zweigen der Bäume waren fast
alle unsichtbar - wie sie vermutlich auch. Aber sie sang nicht. Sie
lehnte den Kopf an den Baumstamm zurück und schloss die Augen.
Ihre
Angst hatte noch einen Grund, einen, den sie sich nicht eingestehen wollte. Sie
hatte Angst gehabt, dass es für ihn schmutzig sein würde - dass sie für
ihn schmutzig sein würde. Sie hatte Angst gehabt, dass er sie verdorben, verseucht
finden würde. Sie war sieben Monate bei Manuel gewesen. Wie durch ein Wunder
war sie nicht schwanger geworden - möglicherweise war sie unfruchtbar.
Aber vielleicht, wenn sie ihn in ihren Körper gelassen hätte, würde sich
Neville erinnert haben, dass sie, wenn auch unfreiwillig, einem anderen Mann
gehört hatte. Und vielleicht hätte das alles geändert. Vielleicht hätte er,
ohne es zu wollen, Abscheu verspürt.
Sie
hätte es gewusst. Und sie hätte dieses Wissen als unerträglich
empfunden.
Sie
hätte sich als unerträglich empfunden. Sie erinnerte sich daran, wie sie nach
ihrer Freilassung auf dem langen Rückmarsch nach Lissabon in einem Fluss
gebadet und plötzlich bemerkt hatte, dass sie nicht mehr aus dem Wasser steigen
oder aufhören konnte, sich mit ihrem zusammengefalteten Hemd zu schrubben -
schrubben und schrubben, bis zur Hysterie. Sie hatte sich schmutziger gefühlt
als je zuvor, aber sie war nicht in der Lage gewesen, den Schmutz abzuwaschen,
weil er unter der Haut saß.
Es war
nicht noch einmal geschehen, aber als sie sich endlich überwunden hatte, aus
dem Wasser zu steigen, und zitternd und verängstigt am Ufer lag, hatte sie
begriffen, dass sie sich vielleicht niemals wieder sauber fühlen würde. Es war
eine heimliche Furcht, mit der sie gelernt hatte zu leben. Aber sollte er
dieses Gefühl jemals teilen, würde sie damit nicht leben können.
Sie
hätte in der Hütte ihre Ängste aussprechen sollen, dachte sie. Sie hätte ihm
sagen sollen, wie sie sich fühlte. Sie hätte ihm von Manuel erzählen sollen,
von ihrem langen Marsch nach Lissabon, von ihren Träumen, ihren Ängsten, ihren
Alpträumen - nein, davon gab es nur einen. Sie hätte ihm alles sagen
sollen. Aber es war ihr nicht möglich gewesen.
Das war
vielleicht das Schlimmste von allem. Wie sollten sie einander jemals wieder
nahe kommen, wenn sie nicht alles miteinander teilten?
Lily
öffnete die Augen und schaute blicklos über das Dach von Newbury Abbey hinweg
auf das offene Meer, als sie plötzlich zu ihrer Linken eine leichte Bewegung
wahrnahm. jemand kam vom Steingarten her den Pfad herauf. Beziehungsweise
jemand stand dort in einiger Entfernung an einem Baumstamm und beobachtete, mit
einer Hand die Augen beschirmend, den Pfad voraus. Vielleicht war es auch eine
Frau. Es war unmöglich zu erkennen, wer es war, aber die Person war ziemlich
groß und trug einen dunklen Umhang. Vielleicht war es Neville, auf der Suche
nach ihr. Ihr Herz hüpfte vor Freude. Vielleicht konnten sie an
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