01 - Nicht ohne meine Tochter
überhaupt nichts tun. Ich konnte sie mir nur allein in einem Krankenhausbett vorstellen. Ein langer, schmerzlicher, bedrückender Nachmittag verging. Ich hielt ihn für den längsten Tag in meinem jämmerlichen Dasein. Ein wahnsinniger, verzweifelter Druck befiel mich. Ich starrte aus unserem Schlafzimmerfenster, erblickte aber nur die Rückseiten der Häuser und sah eine Frau im Nachbarhof. Sie war die Hausangestellte, eine alte Frau, in einen Tschador gehüllt. Sie beugte sich über einen hübschen Springbrunnen und wusch Töpfe und Pfannen, so gut sie das mit nur einer freien Hand konnte. Ich hatte sie bei dieser Arbeit mehrmals beobachtet, hatte aber nie mit ihr gesprochen. In dem Augenblick fasste ich einen Entschluss. Ich würde aus diesem Gefängnis ausbrechen, zu Mostafas und Malouks Haus rennen und mein krankes Kind retten. Ich war viel zu aufgewühlt, um einen klaren Gedanken fassen zu können, und machte mir keine Sorgen über eventuelle Konsequenzen dieser Handlung. Was auch immer sie sein mochten, ich musste mein Kind jetzt sehen.
An diesem hinteren Fenster gab es keine Gitterstäbe und Glasscheiben. Ich zog einen Stuhl herüber, kletterte darauf und stieg rückwärts über den Rahmen, mit meinen Füßen nach dem schmalen Vorsprung tastend, der nur drei bis vier Zentimeter über die Hauswand hinausragte. Als ich auf diesem Vorsprung stand und mich oben am Fensterrahmen festhielt, war ich nur einen Schritt vom Dach des eingeschossigen Nachbarhauses entfernt. Ich drehte meinen Kopf nach rechts und rief. »Khanom!« Die alte Frau drehte sich erschrocken zu mir um. »Schoma Englid sohbat mikonid?«, fragte ich. »Sprechen Sie Englisch?« Ich hoffte, dass wir uns gut genug verständigen konnten, damit sie mir erlaubte, auf ihr Dach zu klettern, mich ins Haus ließ und dann aus der Haustür wieder hinaus. Als Antwort auf meine Frage griff die Frau ihren Tschador fester und rannte ins Haus. Vorsichtig kletterte ich wieder zurück in die Wohnung. Es gab keine Hilfe, keinen Weg nach draußen. Ich lief im Zimmer umher und suchte nach Lösungen.
Ich suchte etwas zum Lesen und durchstöberte Moodys Bücherschrank nach etwas Englischem, das ich noch nicht von vorn bis hinten verschlungen hatte. Ich fand ein vierseitiges Faltblatt, das hinter einen Bücherstapel gerutscht war, und sah es mir neugierig an. Ich hatte es vorher noch nie gesehen. Es war ein in Englisch verfasstes Unterrichtsbuch, das besondere islamische Gebete für bestimmte Rituale im Einzelnen aufführte. Ich ließ mich auf den Boden gleiten und überflog es träge, bis meine Augen an der Beschreibung eines Nazr hängenblieben.
Ein Nazr ist ein feierliches Versprechen an Allah, ein Schwur, eine Art Abmachung oder Geschäft. Reza und Essey hatten schon einmal ein Nazr gemacht. Wenn Allah es irgendwie bewerkstelligen würde, Mehdis verkrüppelte Füße zu richten, würden Reza und Essey die alljährliche Verpflichtung erfüllen, Tabletts mit Brot, Käse, Sabzi und anderen Lebensmitteln in die Masdsched zu bringen, um sie segnen zu lassen und unter den Bedürftigen zu verteilen.
Lautsprecher in der Straße riefen zum Gebet auf. Tränen rannen mir über das Gesicht, als ich die rituellen Waschungen vollzog und mich in den Tschador hüllte. Ich wusste jetzt, was ich tun würde. Ich würde ein Nazr machen. Ich vergaß, dass ich die Glaubensgrundsätze des Islam und des Christentum durcheinanderwarf, als ich laut sprach: »Bitte, Allah, wenn Mahtab und ich wieder zusammensein können und sicher nach Hause zurückkehren, werde ich nach Jerusalem ins Heilige Land pilgern. Das ist mein Nazr.« Dann las ich laut aus dem Buch vor, das vor mir lag, und stimmte ehrfürchtig und in ehrlicher Andacht ein langes, besonderes Gebet auf Arabisch an. Ich glaubte fest daran. Abgeschlossen von der Welt, kommunizierte ich jetzt direkt mit Gott.
Es wurde Abend. Dunkelheit senkte sich über Teheran. Ich saß auf dem Boden in der Halle und versuchte, mir die Zeit mit Lesen zu vertreiben. Plötzlich gingen die Lichter aus. Zum ersten Mal seit Wochen drang das schreckliche Heulen des Fliegeralarms in mein arg mitgenommenes Bewusstsein. Mahtab!, dachte ich. Die arme Mahtab würde solche Angst haben. Voller Verzweiflung rannte ich zur Tür, aber natürlich war sie verschlossen, und ich war in der Wohnung im zweiten Stock gefangen. Gequält ging ich im Zimmer auf und ab, ohne an Schutzvorkehrungen für mich selbst zu denken. Die Worte aus Johns Brief kamen mir
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