01 - Nicht ohne meine Tochter
Hunderte, vielleicht tausende von Menschen drängten sich in diesen wenigen Innenstadtblocks zusammen und ließen die winzigen Gässchen vor Betriebsamkeit schwirren.
Der schöne, sonnige Tag Ende September trug bereits erste Anzeichen des Herbstes. Als wir den Park erreichten, empfanden wir ihn als wohltuende Abwechslung zu den endlosen Reihenhäuserblocks. Er umfasste ein weitläufiges grasbewachsenes Gelände, ungefähr so groß wie drei Häuserblocks, das mit schönen Blumenbeeten und gut gepflegten Bäumen bepflanzt war. Es gab einige dekorative Springbrunnen, aber sie waren nicht in Betrieb, da kaum genügend Elektrizität zur Verfügung stand, um alle Haushalte zu versorgen, und die Regierung es sich nicht leisten konnte, Energie zu verschwenden, um nutzloses Wasser zu pumpen.
Mahtab und Maryam spielten fröhlich auf ein paar Schaukeln und einer Rutsche, aber es dauerte nur ein kleines Weilchen, bis Moody ungeduldig verkündete, dass wir wieder nach Hause gehen mussten. »Warum?«, fragte ich. »Hier draußen ist es viel schöner.« »Wir müssen aber gehen.«, sagte er brüsk. Ich hielt mich an meinen Plan und fügte mich schweigend. Ich wollte so wenig Spannungen wie möglich erzeugen.
Als die Tage vergingen, gewöhnte ich mich irgendwie an die knisternde Atmosphäre in der Wohnung und an das unentwegte geschäftige Treiben in der Nachbarschaft. Den ganzen Tag lang plärrten die Stimmen der fliegenden Händler durch die offenen Fenster. »Aschghali! Aschghali! Aschghali!«, schrie der Müllmann, als er sich mit seinem quietschenden Karren näherte und in Schuhen mit zerrissenen, schlappenden Sohlen durch den Dreck auf den Straßen schritt. Hausfrauen hasteten vorbei, um ihren Müll auf den Bürgersteig zu bringen. An manchen Tagen kam der Müllmann, nachdem er den Abfall eingesammelt hatte, mit einem provisorischen Besen aus riesigen Unkräutern, die um einen Stock geschlagen waren, zurück. Damit kehrte er ein paar Reste, die Katzen und Ratten aus dem Abfall gezerrt hatten, von der Straße. Aber anstatt den stinkenden Müll ganz zu beseitigen, fegte er ihn nur in die nassen Gossen, die anscheinend niemand je sauber machte. »Namaki!«, schrie der Salzverkäufer und schob seinen Handkarren vorwärts, der mit einem riesigen Berg von feuchtem und klumpigem Salz beladen war. Auf sein Signal hin sammelten die Frauen alte Brotbrocken ein, um sie gegen Salz einzutauschen. Das Brot verkaufte der Salzmann seinerseits wieder für Viehfutter. »Sabzi!«, schrie der Mann, der in einem Lieferwagen mit Spinat, Petersilie, Basilikum und mit allen möglichen anderen Gemüsen der Jahreszeit langsam durch die Gasse fuhr. Manchmal benutzte er ein Megafon, um seine Ankunft zu verkünden. Wenn er unerwartet kam, musste Essey sich erst den Tschador überwerfen, bevor sie nach draußen rannte, das Gemüse zu kaufen, das der Sabzi-Mann auswog. Die Ankunft des Schafhändlers wurde durch das ängstliche Blöken einer Herde von zehn bis zwölf Schafen angekündigt, deren Dombes wie Kuh-Euter wackelten. Oft waren die Schafe mit leuchtenden Spraykreisen markiert, an denen ihre Besitzer sie erkannten. Der Schafhändler selbst war nur ein Zwischenhändler. Gelegentlich erschien ein in Lumpen gekleideter Mann, der Scherenschleifer.
Essey erzählte mir, dass alle diese Männer schrecklich arm wären und vermutlich nur in provisorischen Hütten lebten. Ihre weiblichen Gegenstücke waren erbärmliche Bettlerinnen, die an den Haustüren klingelten und um einen Bissen zu essen oder um einen Rial bettelten. Den zerlumpten Tschador fest vor's Gesicht gepresst, sodass nur ein Auge frei blieb, flehten sie um Hilfe. Essey öffnete immer und hatte auch etwas für sie. Mammals Frau, Nasserine, allerdings konnte auch die verzweifeltste Bitte abschlagen. Insgesamt ergab sich eine seltsame Symphonie der Verdammten, wenn die Männer und Frauen hier ums Überleben kämpften.
Essey und ich mochten einander, so wie das bei zwei Menschen möglich ist, die unter solch ungewöhnlichen Umständen zufällig zusammenkommen. Hier konnten wir wenigstens miteinander reden. Es war eine Erleichterung, in einem Haus zu leben, in dem jeder Englisch sprach. Im Gegensatz zu Ameh Bozorg nahm Essey mein Angebot, ihr bei der Hausarbeit zu helfen, dankend an. Sie war eine planlose Haushälterin, aber eine gewissenhafte Köchin. Jedes Mal, wenn ich ihr half, das Essen zuzubereiten, war ich beeindruckt von dem sorgfältigst aufgeräumten Kühlschrank, den ich
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