01 - Nicht ohne meine Tochter
Du trägst keinen Tschador, und Mahtab auch nicht.«
Ich erkannte sofort Moodys Dilemma, denn wenn er zu Nelufar hineinging, würde er Mahtab und mich hier in der Empfangshalle, direkt gegenüber von der Botschaft, ohne Aufsicht zurücklassen müssen! Mir wurde augenblicklich klar, dass es sich nicht um eine Falle handelte. Nelufar war wirklich verletzt. Einen Moment lang vergaß ich meinen eigenen Kummer. Mir war weh ums Herz für das kleine Mädchen und ihre Eltern. Moody beschloss endlich, dass Familienbelange über Familiensicherheit gingen. Und natürlich wusste er nicht, dass ich wusste, wo wir waren. »Bleibt hier!«, befahl er. Dann rannte er davon, um sich nach Nelufars Zustand zu erkundigen. Es war seltsam, so nahe bei der Botschaft und gleichzeitig so handlungsunfähig zu sein. Ein paar Minuten bei Helen wogen Moodys Zorn nicht auf. Er war ohnehin nach wenigen Minuten wieder da. »Es ist keiner mehr hier.«, sagte er. »Morteza hat sie in ein anderes Krankenhaus gebracht. Nastaran ist nach Hause gefahren, also gehen wir zu ihr.« Wir gingen schnell zu ihrem nahegelegenen Haus und kamen auf dem Weg dahin an der Botschaft vorbei. Ich zwang mich, nicht das Gebäude anzugucken, und versuchte, stumm auf Mahtab einzuwirken, sich ebenso zu verhalten. Ich wollte nicht, dass Moody merkte, dass wir das Schild kannten.
Mortezas und Nastarans Haus lag einen Block hinter der Botschaft. Mehrere Frauen hatten sich schon versammelt, um ihr Mitgefühl zu bekunden, darunter Moodys Nichte Fereschteh, die Tee aufbrühte. Nastaran marschierte auf und ab und trat von Zeit zu Zeit auf den Balkon, um zu schauen, ob ihr Mann auf der Straße endlich mit Nachrichten von der Tochter nahte. Von demselben Balkon war das kleine Mädchen drei Stockwerke tief auf das Pflaster gestürzt. Sie war über ein nur fünfundfünfzig Zentimeter hohes, mickriges Metallgeländer gepurzelt. Für Teheran waren Balkon und Tragödie gleichermaßen typisch.
Zwei Stunden vergingen mit nervösen, tröstenden Gesprächen. Mahtab klebte mit ernstem Gesicht förmlich an meiner Seite. Wir dachten beide an das süße, glückliche Kind, und zusammen beteten wir flüsternd, dass Gott über die kleine Nelufar wachen möge. Ich versuchte, Nastaran zu trösten, und sie wusste, dass meine Zuneigung echt war, ich trug das Mitgefühl einer Mutter in meinem Herzen.
Der Zufall wollte, dass Mahtab und ich mit Nastaran auf den Balkon hinaustraten, als sie noch einmal nach ihrem Mann Ausschau hielt. Am Ende des Hofes sahen wir Morteza nahen, flankiert von zweien seiner Brüder. In ihren Armen hielten sie Kartons voller Papiertaschentücher, die schwer aufzutreiben waren. Nastaran stieß einen entsetzten, markerschütternden Schmerzensschrei aus, sie hatte die schreckliche Botschaft richtig interpretiert. Die Taschentücher wurden gebraucht, um damit Tränen zu trocknen. Sie rannte zur Tür und wartete im Treppenhaus auf die Männer. »Morde! Sie ist tot!«, stieß Morteza unter Tränen hervor. Nastaran fiel ohnmächtig zu Boden. Binnen kurzem war das Haus voll von trauernden Verwandten. Rituell trommelten die Trauernden sich gegen die Brust und schrien. Moody, Mahtab und ich weinten mit.
Mein Mitgefühl für Nastaran und Morteza war echt, aber während die lange Nacht in Trauer und Tränen fortdauerte, fragte ich mich, wie diese Tragödie sich auf meine eigenen Pläne auswirken würde. Es war Dienstag, und Sonntag sollte ich Miss Alavi im Park treffen. Würde ich die Verabredung einhalten können, oder würde unser Leben immer noch durch die Tragödie in Aufruhr sein? Irgendwie musste ich eine Gelegenheit finden, zu einem Telefon zu kommen und sie, und vielleicht auch Helen in der Botschaft, anrufen. Und ich musste unbedingt wissen, was mit Ellen passiert war.
Am darauffolgenden Morgen kleideten wir uns in die Trauerfarbe schwarz und bereiteten uns darauf vor, die Familie und unzählige Verwandte zum Friedhof zu begleiten. Die kleine Nelufar war über Nacht auf Eis gelagert worden, und die Sitte verlangte, dass die Eltern an diesem Tag den Körper einer rituellen Waschung unterzogen, während die übrigen Verwandten besondere Gebete anstimmten. Anschließend würde Nelufar in ein einfaches weißes Tuch gehüllt zur Beerdigung auf den Friedhof gebracht werden. In unserem Schlafzimmer bei Mammal sagte ich, als wir uns auf den traurigen Tag vorbereiteten, der vor uns lag: »Warum bleibe ich nicht zu Hause und passe auf alle Kinder auf, während die anderen
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