01 Nightfall - Schwingen der Nacht
Sanctus.
Als sie den Flur entlanglief, blieb sie einen Augenblick lang vor dem Computerraum stehen. Der Liegesessel war leer, der Rechner abgeschaltet. Zusammengewickelte Kabel lagen auf dem Tisch neben Treys Brille. Plötzlich musste sie an Annie denken, die bis obenhin voll mit Medikamenten friedlich in einem Krankenhausbett schlief, ihre Hand- und Fußfesseln neben ihr auf dem Nachttischchen.
Sie schüttelte sich, um das Bild zu verscheuchen, und ging in die Küche. Dort setzte sie sich an den Tisch und bückte
sich, um ihre Schuhe anzuziehen und zu binden. Der Aktenkoffer stand noch neben dem Stuhl. Ihre Tasche und Stearns’ Schlüssel lagen auf dem kobaltblauen Tischtuch.
Sie nahm die Tasche und holte ihr Mobiltelefon heraus. Als sie überprüfte, wer versucht hatte, sie zu erreichen, stellte sie fest, dass Collins angerufen hatte. Einen Augenblick lang hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie hatte ihn mehr oder weniger uninformiert gelassen und ihm keine Erklärung geliefert. Konnte sie ihm trauen? Sie wusste nicht mehr, wo sie stand, und die wenigen Stunden Schlaf hatten auch nicht dazu beigetragen, dass sie wieder klarer sah.
Bestechliche Agenten, FBI-Killerkommandos, wahnsinnige Experimente in der Psychopathologie, Vampire, gefallene Engel und ein Serienmörder, der seine Opfer bestialisch abschlachtete – die Welt und ihr Weltbild hatten sich in den letzten Tagen um hundertachtzig Grad gedreht. Das Einzige, dessen sie sich noch sicher sein konnte, war ihr Versprechen an die Opfer des CCK, ihnen eine Stimme zu geben und Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen.
Was war mit ihrem Versprechen Dante gegenüber? Wieder krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie konnte ihn noch immer an sich, in sich spüren, konnte sich erinnern, wie er sich anfühlte – seine festen Muskeln und die heiße Haut darüber – und wie sie sich selbst in seinen dunklen Augen widerspiegelte.
Noch ist alles still. Bleib, chérie .
Ich werde dich nicht im Stich lassen.
Versprechen waren dazu da, sie zu halten, nicht, sie zu brechen. Das hatte sie als Kind geglaubt, und das glaubte sie noch. Nichts hatte sich geändert. Sie würde alles, was in ihrer Macht stand, tun, um in Dantes Nähe zu sein und ihn am Leben zu halten – und wenn die Akte, die Stearns ihr gegeben hatte, Recht hatte? Wenn Dante eine Stimme war, sie man zum Schweigen bringen musste?
War es denn überhaupt so einfach? Sie war in eine Welt voller Grautönen getreten – in eine Welt des Zwielichts, die komplexer und komplizierter war, als sie sich das jemals hätte träumen lassen.
Sie werden erkennen, was für ein Monster er in Wirklichkeit ist.
Sie wusste, dass sie sich dieser Aussage bald stellen musste. Aber vorrangig hatte sie ein Paar Monster – eines von ihnen ein Nachtgeschöpf, das andere sterblich –, die sie aufhalten musste, ehe sie wieder jemanden töteten, jemanden, der Dante am Herzen lag.
Heather markierte einen von Collins’ verpassten Anrufen und drückte die Wähltaste. Er nahm nach dem ersten Klingeln ab. »Wallace, wo zum Teufel waren Sie?« Er klang hektisch und gereizt.
»Hatte zu tun. Es tut mir leid. Ich weiß, ich hätte Sie schon früher anrufen sollen …«
»Wir müssen reden. Unter vier Augen. Hier ist die Hölle los.«
Heathers Magen verkrampfte sich. »Welche Art Hölle?«
»Unter vier Augen. Haben Sie nicht gesagt, es gäbe im Schlachthaus zwei Leichen?«
»Ja.«
»Wir haben nur eine gefunden. Den Jungen in der Zwangsjacke. «
Heather erstarrte. Sie hatte zugesehen, wie Etienne verbrannt war. »Können Sie mich abholen?«, fragte sie, Sie gab Collins die Adresse.
»Ja.« Er schwieg einen Augenblick lang und fragte dann: »Wohnt da dieser Prejean?«
»Wann können Sie hier sein?«
»In zwanzig bis dreißig Minuten.«
»Bis dann.«
Wie konnte Etiennes Leiche verschwunden sein? Wenn sich diese Nachtgeschöpfe nicht automatisch in Luft auflösten, wenn sie starben, bedeutete das, dass jemand seine Überreste aufgesammelt und mitgenommen hatte oder er aus eigener Kraft aufgestanden und davongegangen war. Beide Möglichkeiten waren unangenehm.
Heather holte die Achtunddreißiger aus der Tasche des Trenchcoats und kontrollierte vorsichtshalber noch einmal, ob die Patronen tatsächlich auch noch an ihrem Platz waren, obwohl sie die Waffe in der Nacht nachgeladen hatte. Sie waren es. Sie hatte keine Ahnung, wer die Trommel zuvor geleert haben konnte, nahm aber an, dass es Jordan gewesen sein musste, nachdem er neben ihr auf
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