01 - Schatten der Könige
Schuppen und eilte hinter ihm her, während sie den Schlaf aus ihren Augen wischte und sich mit den Fingern flüchtig durch das Haar fuhr.
Vom Dorf aus stieg der Weg steil an, der Boden wurde steiniger, das Grün der Pflanzen wich allmählich zurück, und ein feuchter Dunstschleier hing in der Luft. Es wehte kein Lüftchen, und kein Lebewesen störte die kalte Ruhe des Pfades, der sich zwischen blankem Fels zu einem Grat emporschwang und nur gelegentlich von einem knorrigen Baum oder von kargem Gebüsch gesäumt wurde. Manchmal riss der Nebelschleier auf und gewährte einen Blick auf das Land unter ihnen. Die graugrüne Landschaft wirkte auf diese Entfernung winzig, und ihre Ruhe und Ungestörtheit wurde nur von einem glänzenden Fluss unterbrochen, der sich durch das Vorgebirge schlängelte. Kurz danach verschwand dieser Anblick wieder im Dunst, oder Keren wurde von der Schlinge um ihren Hals weitergetrieben.
Sie dachte an die Vision von Tauric, dessen Arm unversehrt ausgesehen hatte und von einer magischen Korona umgeben war. In seinem Blick hatte eine merkwürdige Mischung aus Furcht und Wut gelegen, aber auch Staunen und Freude. Es war der Blick eines Menschen, der dem Willen eines anderen Untertan war oder von einer unerklärlichen Macht kontrolliert wurde, und Keren fühlte sich auf traurige Weise mit ihm verwandt.
Sie dachte an die Zeiten in ihrem Leben, in denen sie ihren persönlichen Launen gefolgt war. Im Alter von siebzehn, zu einer Zeit, die ihr jetzt wie ein anderes Leben, eine andere Welt erschien, war sie im Winter auf dem Rückweg zu ihren Eltern über einen Gebirgspass gereist und hatte vor einem Schneesturm in einer Hütte Schutz suchen müssen. Allerdings war die Hütte bereits von einem Mann belegt gewesen, einem Söldner namens Ahamri. Galant hatte er ihr die einzige Pritsche überlassen und sein Nachtlager auf dem kalten Steinboden aufgeschlagen.
Irgendwann mitten in der Nacht war sie aufgewacht, als der kleine Kobold ihres Verlangens sich meldete. Ahamri war bereits über Dreißig, aber er war durchtrainiert und hager und sah keineswegs schlecht aus, und der Kobold in Keren verlieh ihm erst recht begehrenswerte Züge. Sie warf alle Vorsicht über Bord, schlug die Wolldecke zurück, schlich über den Boden und kroch unter Ahamris Decke. Er hatte überrascht die Augen aufgeschlagen, dann erfreut gelächelt, und danach Keren die Kälte vergessen lassen.
Später, nach dem Einfall der Mogaun und der verheerenden Niederlage bei der Schlacht an der Wolfsschlucht war sie mit den versprengten Resten des Bataillons des Fürsten von Malvur auf dem Rückzug gewesen. Ohne Führung und durch den vorrückenden Feind vom Weg nach Süden abgeschnitten, blieb ihnen keine Wahl als der Pfad in die Berge Prekines. In einem der tiefen Täler des Gebirges trafen sie auf einen Wagenzug, einen Nachschubkonvoi der Mogaun, und hatten rachedurstig die nur von einer kleinen Eskorte geschützten Wagen angegriffen. Erst hinterher hatte Keren herausgefunden, dass in ihnen auch Frauen und Kinder der Mogaun gereist waren, die von ihren Kameraden erbarmungslos abgeschlachtet worden waren.
Angewidert hatte sie in der folgenden Nacht ein Pferd gesattelt und war in einen heraufziehenden Sturm galoppiert, der starke Regenschauer vor sich herpeitschte. Sie war nach Norden geritten, ohne auf die Richtung zu achten, die sie einschlug. Irgendwann in den frühen Morgenstunden hatte sie in einer Senke an einem Bergpfad Halt gemacht, der nach Osten führte. Der Sturm tobte gerade auf dem Höhepunkt seiner Macht, und zwischen zwei Gipfeln erblickte Keren den Halbkreis aus Gipfeln und Kämmen des Oshang Dakhal. Ein schwacher Schimmer am Himmel war das einzige Anzeichen für die Siedlungen von Trevada, und während Keren hinschaute, zuckten Blitze auf ihren höchsten Punkt herab und bildeten Netze, die den Fels selbst zu sprengen schienen. Danach legte sich ein Schleier aus Dunkelheit über die Berge von Prekine, und verhüllte alles in einer Finsternis, die sich zwei Tage lang nicht lichtete. Mittlerweile hatte Keren ihre Rüstung und alle Gegenstände mit kaiserlichen Insignien verscharrt und sich nach Norden aufgemacht, um sich als Söldnerin zu verdingen.
Als sie jetzt den steilen Pfad zu den Klippen hinaufstieg, fiel ihr der alte Namen der Bauern für den Oshang Dakhal wieder ein, das Heim der Blitze, den ihr ein alter Gelehrter in Choraya vor einigen Jahren gesagt hatte.
Ein Dutzend Schritte vor ihr blieb Orgraaleshenoth stehen
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