01 - Schatten der Könige
und rutschte dann mit einem tiefen Ächzen vom Rand hinunter, schwang hinab und prallte mit einem donnernden Krachen gegen die gegenüberliegende Seite der Felswand. Dort hing er einen Atemzug lang, bevor sein ungeheures Gewicht den Agathon vollends aus seiner Verankerung riss, und der Stamm in einer Kaskade von Erde und Steinen in die Tiefe rauschte.
Auf der anderen Seite waren die meisten Reiter damit beschäftigt, ihre in Panik geratenen Pferde im Griff zu behalten. Nur einer nicht. Ein großer, stämmiger Mann schwang sich von seinem Pferd und brüllte vor Wut. Suviel verfolgte entsetzt, wie die Luft um ihn herum schimmerte, als er eine hohle Hand ausstreckte, in der plötzlich Flammen loderten. Er holte aus und schleuderte das Feuer über den Schlund, aber nicht gegen Suviel, sondern in Richtung der Kämpferin. Augenblicklich formte Suviel die Kraft der Niederen Macht um, und der Feuerball prallte gegen den Schild, den sie damit gebildet hatte. Funken stoben auf, als die Flammen auf den Grasbewachsenen Boden fielen und ihn versengten. Suviel zitterte am ganzen Körper vor Anstrengung, aber sie hielt die Barriere aufrecht, weil sie einen weiteren Angriff erwartete. Der Mann tat jedoch nichts dergleichen, sondern blieb nur stehen und starrte sie an. Seine Augen blinzelten nicht, und er hatte die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt. Dann drehte er sich zu den Reitern herum und winkte einen von ihnen heran, einen schlanken Jungen mit einem Umhang. Dieser stieg gehorsam ab und trat neben den Hünen. Der legte dem Jungen die Hand auf die Schulter, dicht neben dem Nacken, und drehte ihn herum. »Keren!«, schrie er.
Verwirrt schaute Suviel über die Schulter. Die Kriegerin saß mit hängenden Schultern neben ihrem verwundeten Gefährten. Ihre Augen waren glasig. Auf der anderen Seite des Abgrunds packte der Mann den Jungen fester, der sich plötzlich heftig schüttelte, das Gesicht vor Schmerz verzerrt, den Mund in einem lautlosen Schrei weit aufgerissen. Die Luft um ihn herum flirrte.
Panik und Entsetzen erfüllten Suviel. Hier war nicht die Niedere Macht, sondern der Brunn-Quell am Werke. Ohne auf ihre eigene Sicherheit zu achten, lief sie rasch zu der Frau, ließ den Gedankengesang der Kadenz verstummen und stimmte den Gesang der Klarheit an, obwohl sie mit einer erschreckender Gewissheit begriff, dass sie zu spät kommen würde. Suviel fiel gerade auf die Knie, als die Frau ihre Augen in den Höhlen rollte, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Sie fiel auf die Seite. »Rüttele sie auf, Heckenhexe«, dröhnte die Stimme des Mannes über den Schlund. »Wecke sie, auf dass meine kleine Keren sieht, was ich für sie geschaffen habe!«
Erfüllt von einer bösen Ahnung drehte Suviel sich herum und rang nach Luft. Die Gestalt, die jetzt schwankend neben dem Hünen stand, war zierlicher, verändert in ihren Proportionen, hatte helleres Haar und ein kleineres, runderes Gesicht. Sie war weiblich und glich vollkommen der Kriegerin, die reglos am Boden lag. Ein Wort schoss Suviel durch den Kopf, ein Begriff aus finsteren Legenden:
Spiegelkind.
»Oder vielleicht solltest du sie schlafen lassen!«, fuhr der Mann fort. »Wiege sie ruhig in seliger Unwissenheit über das Schicksal, das auf sie wartet.« Er lachte wölfisch. »Und dich, Heckenhexe, werde ich ebenfalls nicht vergessen!«
Suviel wurde der Mund trocken vor Angst, und sie musste schlucken, bevor sie ein Wort herausbekam. »Wer bist du?«
»Ich bin Byrnak, Kriegsherr von Honjir!« Sein Grinsen verstärkte sich, bis er schließlich ein rohes Lachen ausstieß, das von den steilen Bergflanken widerhallte. Dann warf er einen Blick auf die Frauengestalt neben sich. »Vielleicht soll ich einen neuen Titel führen, was, mein kleiner Falke?« Er hob ihren Kopf an, der schlaff zur Seite pendelte. »Schau hin, da ist deine Beute! Betrachte sie genau!«
Die Gestalt blickte zu Suviel hinüber, die unter dem leeren, ausdruckslosen Blick erschauerte. Dann richtete sich ihr Blick auf die bewusstlose Schwertkämpferin Keren. Das Gesicht der Frau neben Byrnak zitterte voller Unruhe, während sie vergeblich versuchte, Worte hervorzubringen. »Shh«, sagte Byrnak. »Sei ruhig. Das da ist ein böses Geschöpf, eine Diebin, die meine kostbare Beute gestohlen und mein Vertrauen missbraucht hat. Und dir will sie die Seele rauben. Hör mir zu …« Er drehte den Kopf zu ihr und starrte ihr in die Augen. »Dein Name sei Nerek, und du bist meine Dienstmagd. Ich werde dich Dinge
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