01 - Schatten der Könige
Suviel und beugte sich vor, um ihn genauer zu betrachten. »Aber du hast recht. Es ist zu gefährlich, länger hier zu bleiben …«
»Wir müssen trotzdem eine Siedlung oder einen anderen Unterschlupf finden«, entgegnete Keren. »Und zwar möglichst bald. Ich glaube nicht, dass dieser Bursche einen anstrengenden Ritt übersteht. Schon unsere Flucht aus Byrnaks Lager hat ihn fast umgebracht…«
Suviel hörte ihr nicht zu. Sie hatte sich neben Tauric auf den Boden gehockt und strich ihm mit zitternden Händen das Haar aus dem Nacken. Dort zeigte sich vor ihrem ungläubigen Blick ein rotbraunes Geburtsmal von der Größe ihres Daumens. Es ähnelte einem Wolfsfalken, der seine sichelförmigen Schwingen ausbreitete. Zuletzt hatte sie ein solches Mal vor sechzehn Jahren gesehen, und zwar auf der entblößten Schulter von Kaiser Korregan, als sein Waffenmeister ihm in seine Rüstung geholfen hatte, bevor er in die Schlacht von Arengia zog.
»Was ist los?«, erkundigte sich Keren. »Ist er …?«
»Nein.« Suviels Gedanken überschlugen sich. »Nein, er schläft nur.«
Sie stand auf und blickte auf Tauric hinab. Wie kann das sein?, dachte sie. Jeder Angehörige der kaiserlichen Familie, ganz gleich wie unbedeutend oder weitläufig verwandt er auch sein mochte, wurde von den Akolythen des Zwielichts kurz nach der Invasion der Mogaun gejagt und massakriert. Entsprang dieser Junge vielleicht einem Fehltritt des Kaisers und war heimlich zum Herzog von Patrein geschickt worden? Er zählte etwa siebzehn Jahre, also war das durchaus möglich. Eines jedenfalls war gewiss: Suviel konnte in Tauric nicht einen Funken der magischen Fähigkeiten aufspüren, die ein Bluterbe des Kaisergeschlechts waren. Sie würde heimliche Nachforschungen anstellen müssen, um herauszufinden, wer er war. Und es gab nur einen einzigen Ort auf dem ganzen Kontinent, wo man solche Fragen sicher stellen konnte.
Suviel richtete sich auf, atmete tief ein und schaute zum Himmel hinauf.
»Es wird bald regnen«, erklärte Keren. Sie kümmerte sich um ihr Pferd und das des Jungen. Sie zog die Sattelgurte straffer und wischte die Flanken der Tiere ab. »Noch ein Grund, um aufzubrechen. Nördlich von hier befindet sich der Wald von Varadin, der uns einen gewissen Schutz bietet.« »Wir sollten nach Süden reiten«, sagte Suviel und bemühte sich, so überzeugend zu lächeln, wie sie konnte, als Keren die Stirn runzelte. »Ich kenne einen Ort, wo wir vor Byrnak und seinesgleichen in Sicherheit sind.«
»Tatsächlich? Und hat dieses Schlupfloch auch einen Namen?«
»In der alten Zunge nannte man den Ort Krasivel. Du kennst ihn vielleicht unter dem Namen Refugium.«
Keren schwieg. Ihre Pupillen weiteten sich einen Moment, doch dann kniff sie die Augen zusammen. »Wieder ein Wort aus den alten Legenden. Ich nehme an, der Kaiser hält dort Hof und wartet nur darauf, in die Schlacht zu ziehen und sein Reich wieder in Besitz zu nehmen.«
»Es gibt dort keine Geister«, erklärte Suviel. »Bis auf diejenigen, die uns selbst verfolgen.« Sie musterte Keren, die verbittert die Mundwinkel herunterzog, während sie die Satteltaschen umpackte. »Mir ist klar, dass ich viel Vertrauen von dir fordere, wenn ich dich bitte, mir einfach zu glauben. Es muss schwierig für dich sein, wieder jemandem zu vertrauen.«
Keren antwortete nicht, sondern zurrte mit einer kräftigen Handbewegung die Satteltaschen fest. Dann seufzte sie und schaute Suviel offen an. »Einverstanden«, sagte sie. »Wir gehen mit dir. Sollte ihm etwas zustoßen, werde ich dich töten.«
Suviel erwiderte ihren Blick und nickte. »Ich gedenke deiner Worte«, erwiderte sie formell. »Und jetzt sollten wir Tauric besser gemeinsam aufs Pferd setzen.«
Byrnak hielt die Zügel von Nereks Pferd zusammen mit denen seines eigenen Rosses. Er galoppierte an der Spitze seiner Reiter durch eine mit Büschen bewachsene Schlucht. Er war müde bis auf die Knochen, aber er wurde von einer Macht vorangetrieben, die wie kaltes Feuer in seinem Schädel brannte und ihm Kraft spendete.
Er spürte die unbehaglichen Blicke seiner Männer und hörte ihr Flüstern, doch er empfand nur Verachtung für ihre Furcht. Was wussten sie schon von den Veränderungen, die in ihm vorgingen? Es war, als habe ein mächtiger Mahlstrom ihn gepackt, ihn in seinem unentrinnbaren Strudel gefangen, und nun wurde er langsam in das gewaltige, pulsierende Herz gezogen. Sie taten recht daran, ihn zu fürchten, denn ein Teil von ihm erschreckte
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