01 - Schatten der Könige
war. Eine flache Kuppel erhob sich in der Mitte und schlanke Türme standen an jeder der vier Ecken. In dem Bauwerk befanden sich Zellen und Kammern, sowie die Bibliothek, die Hauptwaffenkammer, eine Schule, die Unterkunft des Heilers und der Schrein mit dem Heiligen Tabernakel von Ash. Außer den Exerzierplätzen beherbergte das Gelände auch eine Obstplantage, ein Gemüsebeet und einen Friedhof. Mazarets Blick blieb an den Grabsteinen haften, die sich um ein kleines Gehölz mit uralten Bäumen drängten. Seine Frau und seine drei Kinder lagen hier begraben, ebenso viele enge Freunde und bestimmt zwanzig tapfere Ritter. Viele waren bereits auf der langen, Kräftezehrenden Flucht nach der fürchterlichen Niederlage bei Arengia umgekommen, doch nachdem sie Krusivel erreicht hatten, setzte ein noch schlimmeres Sterben ein. Die Ritter verendeten an einer ansteckenden Seuche, welche die Schamanen der Mogaun auf sie herabbeschworen hatten. Mazaret konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie das furchtbare Fieber seine geliebte Familie erfasst und sie von seiner Seite gerissen hatte. Die Krankheit hatte ihr Fleisch versengt, ihre Augen und ihren Geist mit Entsetzen erfüllt und jede Erinnerung vernichtet, bevor sich ihre Seelen endlich von diesen Todesqualen befreien konnten.
Mit der Zeit war der tobende Schmerz zu einem dumpfen Gram abgeklungen, aber er konnte nicht vergessen, wie die letzte seiner Familie, die kleine Talve gestorben war. Damals hatte er vor Qual gebrüllt und war in die Nacht hinausgelaufen. Er war in dem wilden Dickicht herumgestolpert und hatte sich verirrt. Irgendwann stolperte er aus vielen Kratzwunden blutend aus dem Wald heraus und fand sich neben einem natürlichen Becken wieder, in das sich ein Wasserfall ergoss. Das Rauschen zog ihn unwiderstehlich an. Vom Wahnsinn übermannt, füllte er seine Taschen und sein Wams mit Steinen und stürzte sich in das Becken. Ein scharfer Schmerz durchzuckte seinen Kopf, und er erinnerte an nichts mehr, bis er wieder zu sich kam. Er lag rücklings auf den Felsen hinter dem Wasserfall, dessen Gischt in der Sonne glitzerte. Dann war aus dem rauschenden Wasser eine Stimme zu ihm gedrungen.
»Der Tod ist dir noch nicht bestimmt, Sohn meiner Töchter. Vieles ist verloren, aber der Kampf ist noch nicht vorbei, die Jagd noch nicht zu Ende.«
Verschiedene Gerüche drangen ihm in die Nase, der Geruch nach Erde und Wurzeln, der schwere, feuchte Duft eines fruchtbaren Ackers, des Keimens und Wachsens. Sein Herz hämmerte in kalter Furcht. »Wer spricht da?«
»Du kennst mich und meinen Geliebten, der mit deinem Kaiser bei Arengia niedergemetzelt wurde. Ich habe bitter um die Liebe meines Herzens geweint, dessen Geist nun nicht mehr ist, den ich jedoch nicht vergessen kann. Wisse, dass deine Trauer der meinen gleicht. Doch mein Hunger nach Rache ist der Trauer mehr als ebenbürtig. Also höre, Ikarno Mazaret, wähle das Leben, damit das Leben am Ende triumphieren möge. Obwohl der Herrscher des Zwielichts siegreich zu sein scheint, ist sein finsterster Plan gescheitert. Der Tag wird kommen, an dem die Taten des dunklen Fürsten die Welt erneut in ihren Klauen halten, und der Krieg die Schwachen und Unschuldigen frisst. Also lebe, Sohn meiner Töchter, lebe und bereite dich auf diesen Tag vor. Und dann nimm Rache für deinen Verlust.«
Ein Suchtrupp hatte ihn später gefunden, halb benommen und am Rand des Beckens kauernd. Eine brütende Dunkelheit hielt seinen Geist danach wochenlang umfangen.
Währenddessen lagen die Führung und das Kommando der Überlebenden in den Händen des Schild-Priors des Ordens, Attal. Mazaret runzelte jetzt die Stirn, als er versuchte, sich Attals freundliches Wesen in Erinnerung zu rufen und seufzte bedauernd.
Die sterblichen Überreste des armen Attals lagen neben denen der anderen auf dem Bestattungsfried. Er war an einem Speerstoß gestorben, der ihn niemals hätte treffen dürfen.
Aber die Erinnerung an diese Stimme, die in seinem Kopf gesprochen hatte, und an den eindringlichen, unheimlichen Duft von Laub und Wurzeln hatte die vergangenen Jahre unverändert überstanden.
Mazaret und der Läufer nahmen den kürzesten Weg zum Tempel, der um die Stadt herum und durch eine kleine Obstplantage führte. Etwa vierzig Novitates und Ritter übten im Haupthof des Tempels den Schwertkampf, während die beiden Männer an ihnen vorüber zum Tor der Sakristei eilten. Rul Dagash erwartete sie bereits. »Geh zu Toi Urzik«, befahl der Rul dem
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