01 - Schatten der Könige
als hörte ein anderer diese schlechten Nachrichten und würde von dieser ohnmächtigen Angst und Trauer gepackt. In der betäubten Stille versuchte er sich an das letzte Mal zu erinnern, als er seinen Vater gesehen hatte. Es war auf einer Reise nach Norden gewesen, vor fünf Jahren. Hevelik Mazaret war Baronet der uralten Krone von Anghatan, und außerdem Hafenmeister der Stadt Casall. Statt vor den Invasoren zu fliehen, hatte er sich ihnen scheinbar unterworfen und ihnen angeboten, den Hafen und die Piers für sie zu leiten. In Wirklichkeit jedoch versammelte er eine Geheimorganisation um sich, die Mitternachtsschiffe, die eine Fluchtmöglichkeit vor allem für adlige Flüchtlinge boten. In den folgenden Jahren wuchs das Risiko, entdeckt zu werden, immer mehr, aber trotzdem und ungeachtet seines fortgeschrittenen Alters, weigerte sich Hevelik, aufzuhören.
»Wenn ich mich zurückziehe«, hatte er Ikarno bei dessen letztem Besuch gesagt, werden die Mogaun irgendeinen rückgratlosen Narren an meine Stelle setzen, eine Marionette dieses Thraelor, den sie zu ihrem Obersten Hauptmann gemacht haben.
Wenn das passiert, werden viele Händler nur noch Rauthaz anlaufen, oder die Häfen von Jefren. Und wo blieben wir dann, hm?«
Einen Augenblick lauschte Mazaret seinen eigenen Atemzügen. »Haben Sie den Täter erwischt?«, fragte er dann.
»Ein Küchendiener wurde am nächsten Morgen tot aufgefunden.« Der jüngere Mazaret zuckte mit den Schultern. »Vielleicht lag es daran, dass zu viele Flüchtlinge nach Keremenchool entkommen sind. Oder vielleicht ist ein hochrangiger Gefangener zu viel aus dem Roten Turm geflohen, und jemand aus Thraelors Umgebung hat beschlossen, ein Exempel an dem alten Mazaret zu statuieren …« Seine Worte wurden von einem Schluchzen erstickt, ein keuchendes Schluchzen, das er rasch unterdrückte. Ikarno Mazaret betrachtete seinen Bruder traurig und voller Mitleid, und erinnerte sich daran, wie sehr Coireg unter dem Tod ihrer Mutter vor sechzehn Jahren gelitten hatte. Sie hatten beide wahrhaftig genügend vom Becher des Leids gekostet. Er seufzte und legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. Coireg sah ihn aus geröteten Augen an.
»Ich war in der Nähe von Casall, als mir die Nachricht überbracht wurde. Ich habe dort einen Tag und eine Nacht gewartet, bis ich mich entschied, nach Süden zu reiten und es dir mitzuteilen. Fünf Wochen im Sattel sind eine lange Zeit, vor allem für Seftal, meinen Diener. Als ich aufgebrochen bin, wollte ich dich nur finden und dir die Nachricht bringen. Auf dem Ritt habe ich über die Geschehnisse nachgedacht. Und jetzt, während ich hier vor dir sitze, will ich nur, dass jemand dafür bezahlen muss.« Er ballte die Faust. »Ich möchte eine Chance bekommen, zurückzuschlagen, Ikarno, verstehst du das? Das ist der andere Grund, aus dem ich hier bin. Ich möchte dich bitten, an deiner Seite kämpfen zu dürfen. Natürlich bin ich kein Ritter, aber ich bin ein guter Kundschafter und verstehe es, um mein Leben zu kämpfen. Ich könnte einigen deiner Leute ein paar schmutzige Tricks beibringen, und vielleicht hier und da einen Überfall anführen …«
Seine Stimme klang ruhig und ernst, aber Mazaret begriff überrascht, dass sein Bruder ihn anflehte. Er dachte an seine Mutter und seine Schwester, an die Gräber hinter dem Tempel, an seinen Vater. Dann fiel ihm Suviels Ankunft ein, und der junge Tauric, und plötzlich keimte eine Idee in ihm auf. Er zog Coireg an der Schulter hoch.
»Es gibt tatsächlich einen Weg, wie du uns helfen kannst.«
6
Wenn der Verrat einen Maskenball gibt,
lässt das Vertrauen uns tanzen.
AVALTI, Der Gesang der Klinge
In dem langen Ostkorridor des Tempels der Erden Mutter gab es keine Fenster. Dennoch war er mit künstlerischer Hingabe gestaltet worden. Dutzende von gläsernen Lampen hingen an wundervoll verzierten Wandhaltern und ergossen ihr goldenes Licht über die Gemälde, Schnitzereien, Skulpturen und auch Pergamente. Suviel stand vor einer der Nischen und betrachtete ein Porträt Kaiser Korregans. Da sah sie, wie der Lordkommandeur und ein anderer Mann aus dem Vorzimmer traten. Der andere war korpulent, jünger als Mazaret und hatte sich einen dunklen Umhang über die Schultern geworfen. Im Licht der Lampen unterhielten sie sich kurz und leise miteinander, dann nickte der Fremde und warf ihr einen Blick zu, bevor er in einem Seitengang verschwand.
»Schönen Morgen, mein Herr Mazaret«, begrüßte sie Ikarno mit
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