01 - Schatten der Könige
muss, wie soll ich da wissen, wie ich sie jagen soll?«
»Der Brunn-Quell wird dich leiten. Berühre ihn, atme ihn, schmecke ihn, und er führt dich unfehlbar zu deinem Ziel.«
Sie atmete tief, starrte die Bilder auf dem Gobelin an und nickte.
»Wann breche ich auf?«
»Schon bald.« Er zog sie an sich. »Schon sehr bald.«
Hinter ihm zerfiel der kostbare Gobelin zu einer Wolke aus feiner Asche.
9
KÖNIG OROSIADA:
Ungeheuer, du hast meine Städte zerstört, tausende meines Volkes abgeschlachtet und selbst das Land vergiftet Bevor ich nun mein Urteil vollstrecke, sag mir, warum hast du das getan?
DAS BIEST ORGRAALESHENOTH:
O blinder und geistloser König!
Weil nur die stärksten Waffen
es
wert sind, zerbrochen zu werden.
LEGENDEN YULARIAS, Buch 3,
Die verlassene Mühle war ein rechteckiges, zweigeschossiges Bauwerk mit dicken Steinwänden und einem kleinen Türmchen. Früher einmal hatte das Gebäude als Fort gegen die marodierenden Bergbanditen gedient. Davon zeugten die Schießscharten in den Mauern und die niedrige Brüstung. Irgendwann hatte man es zu einer Mühle umgebaut, jetzt jedoch war es nur noch eine finstere und leere Hülle. Die Außengebäude waren zu überwucherten Trümmern verfallen, und das große Mühlrad lag ein Stück weiter stromabwärts von Unkraut bedeckt am schlammigen Ufer und verfaulte langsam. Nur der Bach war geblieben und ergoss sich unaufhörlich aus dem Bachruz-Gebirge. Er trug die Spiegelungen des nächtlichen Sternenhimmels ins Tal hinab und spülte sie in den langen, tiefen Audagal-See.
Sentinel Kodel trieb alle, einschließlich der Pferde, hastig in die Mühle. Dafür war Tauric ihm sehr dankbar. Die kalte Luft verursachte ihm unerträgliche Schmerzen in seinem Arm, und ihm war schwindelig und übel.
Drinnen wurden Fackeln angezündet, deren Schein einen riesigen, leeren Raum mit einem niedrigen Holzdach beleuchtete, das auf schweren Holzpfeilern ruhte. An der Seite befand sich der große Mühlstein mit der eisernen Antriebswelle, die den Umfang eines kräftigen Oberschenkels aufwies. Einst war sie an dem Mühlrad befestigt gewesen, doch jetzt lag sie nutzlos auf dem Mühlstein, und ihr Rost färbte den Granit rot. Der Boden war mit Abfällen und Tierkot übersät. Kodel befahl einem seiner Leute, den Dreck zum Hauptportal hinauszufegen, ließ ein Feuer in dem verfallenen Kamin entzünden und die Vorräte von den Packpferden laden. Sie legten ihre Bettrollen auf die Pflastersteine, und schon bald stieg Essensgeruch von gusseisernen Kesseln auf.
Tauric packte seine eigene Decke von seinem Pferd. Er spürte die Blicke seiner Gefährten, aber sie kümmerten ihn nicht sonderlich. Er ging zu einem Alkoven in der Nähe der Türen, abseits von den anderen, breitete die Bettrolle auf dem Boden aus und ließ sich schwerfällig darauf nieder. Er fühlte sich trostlos, bedrückt von dem Verlust seines Armes und seinen niederschmetternden Gedanken. Der erste Schock über die Amputation seines rechten Unterarms war zwar vergangen, doch die Qual blieb. Er ertappte sich immer wieder dabei, wie er mit der fehlenden Hand nach den Zügeln seines Pferdes oder nach Tellern und Knöpfen griff, in dem trügerischen Wahn, sie wäre noch da. Er starrte auf das verkrüppelte Glied, um das Leinentücher gewunden waren, die von Lederbändern zusammen gehalten wurden. Er umfasste es mit der gesunden Hand und kniff die Augen zusammen, weil ihm die Tränen kamen, als er an seinen Vater, den Herzog von Patrein, dachte. Erinnerungen durchzuckten ihn wie Blitze. Wie er mit seinem alten Hund, Holdfast, um die Wette gelaufen war. Oder wie er in die Moore von Süd-Khatris geritten war, und ein gezähmter Kronfalke sich auf dem ausgestreckten Arm seines Vaters niedergelassen hatte. Er erinnerte sich an einen Besuch in Tobrosa zu den jährlichen Pferderennen, und wie er den besten Reitern des Herzogtums zugejubelt hatte. Er sah seine Mutter vor sich, Lady Illian. Sie lehrte ihn, Gedichte zu schreiben und wie man die viersaitige Kulestri spielt. Er erinnerte sich, dass er beobachtet hatte, wie sein Vater heimlich Tränen vergoss, als sie nach langer Krankheit verschied. Später hatte er sie hinaus in den Fontänengarten getragen und unter dem abendlichen Himmel Lieder voller Trauer gesungen.
Dann die Übungen im Schwertkampf und Beherrschung des Bogens, Lektionen über Pflicht und Verantwortung, und all das vor dem Hintergrund wachsender Spannungen zwischen dem Herzog von Patrein und verschiedenen
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