01 - Schatten der Könige
riet sie ihm, als der Gesang in ihren Gedanken kreiste und die Niedere Macht reagierte. Es war wie ein Gezeitenwechsel, Ebbe wurde zur Flut, die eine große Kraft immer höher und höher in ihr ansteigen ließ. Ihre Atmung verlangsamte sich, wurde tiefer, und die Luft in ihrem Mund, der Nase und der Brust wurde kälter.
»Jetzt«, hörte sie Keren flüstern. »Jetzt…« Die Niedere Macht stieg wirbelnd in ihr empor, strich zärtlich über ihr Rückgrat, schärfte ihre Sinne und stieg ihre Kehle hinauf, als sie den Mund öffnete. Ihre Lungen waren zum Besten gefüllt, und sie war bereit, sie in einem einzigen, zerschmetternden, unaufhaltsamen Schrei…
Ohne Vorwarnung erlosch die Macht in ihr.
Entsetzt fiel ihr Blick auf die heranstürmenden Feinde, und ihr Kopf fuhr zu Raal Haidar herum. Der Zauberer hatte den Kopf gesenkt, hielt die Hände leicht vom Körper weg und richtete die Handflächen zu Boden. Ein Krieger der Mogaun war den anderen vorausgeeilt, und während er mit einem wilden Grinsen auf sie zurannte, holte er aus, um den Speer zu schleudern. Im selben Moment reckte Haidar seine Hände gen Himmel, und der Boden um sie herum erbebte. Der Mogaun wurde von einem Strom aus Felsen und Erde getroffen, und ein gewaltiges Dröhnen erschütterte die Luft. Suviel rang ächzend nach Luft. Ein plötzlicher, stechender Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen.
Dann verstummte das grausame Geräusch, und eine knochenweiße Helligkeit hüllte sie und ihre Umgebung ein. Sie befanden sich wieder in der öden Domäne von Kekrahan. Die ungeheuren Gipfel, die Suviel zuvor in weiter Ferne gesehen hatte, erhoben sich jetzt direkt vor ihnen. Sie zügelte ihr ängstliches Pferd und sah, wie Gilly über einen unfruchtbaren Hang auf sie zuritt. In der Ferne hörte sie wildes Geheul.
»Die schwarzen Kreaturen!«, schrie Gilly. »Einige von ihnen laufen geradewegs auf uns zu!« »Hast du Haidar und Keren gesehen?«
»Nein. Aber dafür ganze Horden dieser Wesen. Sie kommen auch von der anderen Seite über den Hügel.«
Das Heulen näherte sich, als sie so schnell sie konnten zu dem Kamm hinaufritten. Dahinter erblickte Suviel Keren und den Zauberer auf halber Höhe des gegenüberliegenden Hanges, die sich gegen Dutzende dieser Kreaturen wehrten. Einige trugen Schwert und Schild, andere waren mit Lanzen aus rotem Feuer bewaffnet. Als Suviel einen Blick über ihre Schulter warf, sah sie mehr als hundert weitere dieser Geschöpfe, die sie fast eingeholt hatten. Suviel stimmte den Gedankengesang der Glut an und griff zu ihrem langen Dolch, den sie nur selten benutzte.
»Wir müssen uns ihnen hier stellen«, sagte sie zu Gilly. Der Händler war aschfahl im Gesicht, nickte jedoch und hob sein Schwert, als die erste Welle dieser Geschöpfe über den Kamm stürmte … Und geradewegs an ihnen vorbeilief.
»Was …?« Gilly war vollkommen verwirrt.
Suviel schaute ungläubig auf die vorübereilende Menge schwarzer Gestalten, und blickte dann zu der Stelle, an der Haidar und Keren von zahlreichen Angreifern umzingelt waren. Die Wesen kletterten in ihrer blinden Angriffslust beinahe übereinander weg.
Der Zauberer lachte, hob seine geballten Fäuste über den Kopf und schleuderte eine breite Feuersichel gegen die heranstürmenden Kreaturen. Ein tiefroter Blitz zuckte, Donner grollte und Rauch stieg auf. Als sich der Qualm verzog, bedeckten die zermalmten, blutleeren Reste der Wesen den Boden. Mitten in diesem schrecklichen Anblick stand Raal Haidar. Mit einer Hand hielt er Keren am Nacken fest, die andere hatte er ausgestreckt. Einen Moment glaubte Suviel, der Zauberer würde Keren stützen, doch dann bemerkte sie die schwachen, vergeblichen Bemühungen der Schwertkämpferin, sich aus dem Griff Haidars zu befreien. Immer mehr der schwarzen, hundeartigen Gestalten drängten gegen den Zauberer, dessen Gestalt sich plötzlich zu verändern begann.
Die Säume seiner Robe platzten, die Gewänder rissen auf und fielen zerfetzt zu Boden. Seine Schulter wurden breiter, die Arme länger, und sein Kopf nahm die Form eines Reptilienschädels an. Muskeln spannten sich unter einer Haut, die von smaragdgrünen Schuppen bedeckt war. Die Finger an seinen großen, kräftigen Händen liefen in spitzen Krallen aus, und zwischen den breiten Schultern spreizte sich ein enormes Flügelpaar aus ledrigen Membranen, während ein gepanzerter Schwanz gelassen hin und herzuckte.
Suviel erkannte ihn sofort.
»Dämonenbrut!«, flüsterte sie entsetzt.
Das
Weitere Kostenlose Bücher