01 - Schatten der Könige
vier Tage lang, bis sie die steilen Hänge erreichten, welche die Grenze nach Prekine bildeten. Dort musste Suviel Gilly und Keren entweder zurücklassen, während sie nach Trevada weiterreiste, oder sie aber in ihr Vorhaben einweihen, das Kristallauge zu beschaffen. Raal Haidars Pläne waren Suviel ein Rätsel, aber sie beschloss, ihm seine Absichten irgendwie zu entlocken, bevor sie Prekine erreichten.
Während sie weitergingen, dachte Suviel an die Reise, die vor ihnen lag, während Gilly neben ihr hertrottete. Das letzte Mal hatte sie diese Strecke in einem Sommer vor neunzehn Jahren zurückgelegt. Drei Jahre vor dem Einfall der Mogaun. Damals hatte sie den Sohn ihrer Schwester von Tobrosa nach Trevada gebracht, war dann nach Casall und Rauthaz weitergezogen und ostwärts durch Nord-Khatris nach Besh-Darok gelangt. Diese Reise war das Geschenk einer Tante an ihren einzigen Neffen gewesen, bevor dieser als junger Offizier in die Armee eingetreten war.
Sie versuchte, sich die Straße nach Norden vorzustellen, aber ihre Gedanken kehrten immer wieder zu diesem schrecklichen Geschöpf zurück, das aus der Schlucht geklettert war und sich auf sie gestürzt hatte. Seine Gliedmaßen schienen sehr beweglich zu sein, so als habe es mehr als zwei Gelenke darin besessen. Sein haarloser Balg war glatt und aschgrau, und wirkte eher wie aus Stein gehauen denn wie Haut. Der schmale Kopf lief in einer langen Schnauze aus, welche die Kreatur weit aufgerissen hatte. Aber Suviel konnte sich nicht erinnern, eine Zunge gesehen zu haben, und auch keine Zähne, und sein Blick hatte verzweifelt und gequält gewirkt. Dies passte schwerlich zu Raal Haidars Behauptung, dass diese Kreaturen gefährliche und tückische Bestien wären.
Der Abend und auch der nächste Tag verliefen ohne Zwischenfälle, und sie erreichten das andere Ende von Ubanye Dale. Durch die Klamm streiften auch Mogaun, aber kaum mehr als ein oder zwei Dutzend. Sie wurden von einem Unterhäuptling befehligt, der sie gelegentlich auf halbherzige Patrouillen schickte. Suviel und ihre Begleiter wichen ihnen mit Leichtigkeit aus.
In dieser Nacht schliefen sie in einer kleinen Taverne, die sich unter das gewölbte Blätterdach zweier mächtiger Agathon-Bäume kauerte. Die gewaltigen Wurzeln hatten sich ihren Weg bis in den Schankraum gebahnt.
Am Morgen erstand Suviel bei dem Wirt zwei ausdauernde Ponys, und sie setzten ihre Reise nach Norden fort. Am frühen Nachmittag zwangen sintflutartige Regenfälle sie, Schutz zu suchen, und nach einem anstrengenden Ritt über eine öde Bergstraße stießen sie schließlich auf eine geräumige, von Büschen gesäumte Höhle, von deren hinterem Ende ein kurzer Tunnel abging.
Er führte in eine niedrige Kaverne, deren blanker Boden von vielen Feuern geschwärzt war. Die Felswände waren mit einer Vielzahl derber Bemerkungen und lästerlicher Holzkohlekritzeleien beschmiert. Gilly und Haidar banden die Pferde in der äußeren Höhle fest, während die Frauen die Ponys ins Höhleninnere führten. Im Licht einer Fackel und einer Öllampe, die Keren aus ihrer Satteltasche gezogen hatte, sah Suviel zwei in den Fels gehauene Nischen, die einmal Schreine gewesen sein mussten. Beide waren entweiht und mit Hämmern oder Äxten zertrümmert worden. Doch die verbliebenen Symbole in einer der beiden Nischen verrieten ihr, dass sie einmal der Erden Mutter geweiht gewesen waren. Der andere Schrein war weitaus weniger beschädigt, wirkte jedoch wesentlich älter.
»Es ist irgendeine Gestalt, die aufrecht steht«, sagte Suviel, während sie den verkrusteten Schmutz von einem Relief in der Nische kratzte. »Sie hält etwas in beiden Händen.«
Keren beugte sich vor, um besser sehen zu können, während Suviel das Innere des Schreins prüfend musterte, bis sie schließlich ratlos aufgab.
»Es ist jedenfalls sehr, sehr alt«, meinte sie, richtete sich auf und wischte sich die Hand an der Robe ab. »Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, um wen es sich handelt, oder wozu es einst diente.« Keren blickte auf und lächelte schwach. »Ich glaube, es handelt sich um einen Nachtbären-Schrein.« »Der Nachtbär wird doch gewöhnlich auf allen Vieren abgebildet? Ich habe noch nie einen gesehen, der aufrecht steht und Waffen in den Tatzen hält.«
»Ich schon, in den Bergen des nördlichen Honjir.« Kerens Lächeln nahm einen bitteren Zug an. »Ich ritt Patrouille für Byrnak und suchte nach einem seiner zahlreichen Feinde. Dabei bin ich zufällig auf ein
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